Sonntag, 15. Juni 2008

Schlemihls Enkel

Von Weitem sah ich den Postzusteller vor meinem Haus stehen. Suchend schaute er sich um und trat dabei frierend von einem Bein aufs andere. Dann entdeckte er mich.
„Hach, Herr Krambach!“, rief er zu mir herüber, „Schön, dass ich Sie noch erwische. Ich habe ein Einschreiben für Sie!“
Er übergab mir einen braunen dicken Din A 4 - Umschlag und ließ mich auf seinem elektronischen Handheld quittieren.
„Danke sehr und ein schönes Wochenende!“
"Ihnen auch, Herr Krambach! Alles Gute. Vielleicht klappt’s ja bald mit einem Job!“
Der Zusteller war schon einige Jahre in unserem Viertel und mit meiner Arbeitslosigkeit und dem folgenden sozialen Abstieg bestens vertraut. Oft brachte er stapelweise Absagen meiner Bewerbungen. Er wusste, warum die Türklingel nicht mehr funktionierte und kannte den Grund, weshalb ich jetzt im Frühling meist tief vermummt auf sein Klopfen öffnete. Die Stadtwerke hatten vor einiger Zeit Strom und Gas abgestellt und es war nur eine Frage von Wochen, wann der Räumungsklage meines Vermieters stattgegeben wurde.
Ich schloss die Haustür auf und ging über den dunklen Flur direkt in die kleine Küche. Wenigstens hier war es hell und gemütlich, trotz der Kälte. Im Herbst hatte ich einige Zwergnarzissen- und Wildtulpenzwiebeln aus dem Vorgarten ausgegraben und in einem Blumenkasten innen vor das Küchenfenster gestellt. Gelb und rot mit sattgrünen Blättern leuchteten sie im Schein der Mittagssonne.
Ich setzte mich an den Küchentisch, las den Absender „Niedersächsisches Institut für angewandte medizinisch-technische Zell- und Organforschung e. V.“ und öffnete den Umschlag …
Natürlich! Wieder einmal bekam ich einen Ordner mit Bewerbungsunterlagen zurück.
Ziemlich schnell sogar. Erst letzte Woche hatte ich mich auf eine ganzseitige Stellenanzeige in unserer hiesigen Tageszeitung als einer der gesuchten Labor-Assistenten beworben.
Das Anschreiben allerdings klang vielversprechend, besonders die letzten Zeilen:

„ … teilen wir Ihnen mit Bedauern mit, dass alle Stellen bereits vergeben wurden.
Sollten Sie jedoch Interesse an der Mitwirkung eines aufwendigen Experimentes haben, melden Sie sich bitte am kommenden Freitag, den 16. März 2007 um fünfzehn Uhr beim Pförtner. Bei Eignung wird die Teilnahme mit einer Aufwandsentschädigung von sechzehntausend Euro dotiert …“

Meine Hände zitterten vor Aufregung. So viel Geld? Was konnten das für Versuche sein?
In Anbetracht meiner prekären Lage würde ich sogar eine Niere für diesen hohen Betrag opfern!
Oh, verflucht! Heute war der benannte Freitag. Ich hatte kaum Zeit mich umzuziehen. Schwarz fahren würde ich auch müssen, mit dem Fahrrad würde ich es kaum rechtzeitig zum vorgegebenen Termin quer durch die Stadt schaffen.

Die riesige Uhr neben der Pförtnerloge zeigte fünfzehn Uhr zwölf. Im Eingangsportal drängelten sich mindestens zwanzig Menschen verschiedenen Alters. Drei Männer in weißen Kitteln verteilten Fragebögen und Stifte. Einer der Herren kam auf mich zu. Ich zeigte ihm das Anschreiben. Er nickte und lächelte mich an.
„Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Krambach. Mein Name ist Werner, Heinz Werner. Ich bin der Leiter der Labor-Abteilung. Bei Ihnen können wir uns die Profilerstellung sparen. Wir hatten ja bereits das Vergnügen ihre Unterlagen zu studieren. Bitte kommen Sie mit“
Der Weißkittel, ein kahlköpfiger untersetzter Mann um die Fünfzig, führte mich durch gleißend hell erleuchtete Gänge kreuz und quer durch das Institut. Leise surrte eine Klimaanlage. Ab und zu begegneten wir anderen, allerdings grün bekittelte Personen, die auf eisernen Rollwagen verschiedene Geräte mit Schläuchen, Kabeln und Monitoren schoben.
Schließlich bat er mich in einen Konferenzraum. Erwartungsvoll wurden wir von einer Gruppe älterer Männer, ebenfalls weiß gekleidet, begrüßt.
Herr Werner wies mir einen Platz am Kopfende des Tisches zu und begann, mich den anderen anhand meiner kopierten Bewerbungsunterlagen vorzustellen.
Er schloss mit der Bemerkung: „Nun, meine Herren, ich denke, der Proband erfüllt alle physischen und psychischen Merkmale, um an unserem Experiment teilzunehmen. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Herrn Krambach in groben Zügen das weitere Vorgehen anhand einer virtuellen Animation erklären lassen.“
Stummes, einhelliges Nicken antworte ihm.
Werner nahm die vor ihm liegende Fernbedienung auf und drückte nacheinander ein paar Tasten. Lautlos schlossen sich die Jalousien, gleichzeitig ertönte leise, betörende Musik und eine große Leinwand am Ende des Raumes zeigte ein Getreidefeld mit Mohn und Kornblumen unter leuchtend blauem Himmel. Dann wechselte der Film zu einer unter Glas liegenden Einkaufspassage, in der viele Personen auf und ab gingen. Wieder änderte sich die Szene. Man sah einen Menschen von hinten – irgendwie war er mir ähnlich! – die Treppe zu einem mehrgeschossigen Haus hinaufgehen. Er öffnete die Tür, stieg in den Fahrstuhl und nach ein paar Filmsekunden wieder aus. Der Mann klingelte an einer Wohnungstür und wurde von einer wunderschönen Frau empfangen. Nach einer Überblendung sah man ihn kurz darauf inmitten einer Stehparty mit Musik, Getränken und vieler durcheinanderredenden Menschen. Ein Pärchen saß eng umschlungen in einer Ecke und küsste sich leidenschaftlich. Der Mann drehte sich um.
Das war ja ich! Der Mann lächelte uns zu und hob sein Sektglas.
Dann wurde die Leinwand dunkel und lautlos hoben sich die Jalousien wieder.

Herr Werner begann über das Experiment zu referieren. Eigentlich verstand ich kaum, was er in einer Mischung aus computertechnischen und medizinischen Ausdrücken erzählte. Nur soviel: Ich sollte, wenn ich einwilligte, einer der Probanden sein, um eine aufwendige Untersuchung über virtuelles Leben zu erforschen. Gleichzeitig müsste ich einwilligen, meinen Körper für die Dauer der Experimente dem Institut zur Verfügung zu stellen. Außerdem sollte ich sofort abkömmlich sein. Für alles Weitere würde gesorgt, sodass ich weder Wäsche noch sonstige Utensilien von zu Hause bräuchte. Dafür würde ich bei Beginn des Versuches die sechzehntausend Euro bekommen. Selbst wenn ich die Studie abbrach, sollte mir das Geld gehören.
Ich gebe zu, dass ich im weiteren Verlauf nicht mehr zugehört habe. Zu sehr beschäftigte mich das unbändige Glücksgefühl, mit einem Schlag aus all dem finanziellen Schlamassel rauszukommen. Mietschulden, Hunger und Kälte sollten ein Ende haben. Zudem blieb noch genug Geld übrig, um sparsam ein Jahr über die Runden zu kommen. Wenn das kein Glücksfall war!
Einer der Herren legte mir eine schriftliche Einverständniserklärung vor. Mit seinem wunderschönen schwarzgoldenen Parker-Füller unterschrieb ich ohne zu lesen. Was interessierte mich das Kleingedruckte! Das Geld gehörte auf jeden Fall mir! So stand es groß und deutlich direkt unter dem Unterschriftenfeld.
Nun unterzeichnete auch Herr Werner, wedelte das Schriftstück zum Trocknen der Tinten hin und her und verwarte es sorgfältig in einer Klarsichtmappe.
„Herr Krambach, wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen! Sie werden nun von einer unserer Assistentinnen zur physischen Voruntersuchung gebracht.“
Herr Werner reichte mir lächelnd die Hand und drückte dann wieder auf die Fernbedienung.
Eine grün gekleidete Frau führte mich schweigend aus dem Raum, wie vordem durch endlose Gänge, über hell erleuchtete Flure. Immer wieder öffnete sie mit Fingersensoren gesicherte Türen durch Drücken ihres Daumens. Dann fuhren wir mit einem Fahrstuhl, der erst durch Tippen eines langen Codes in Gang gesetzt wurde, ins Untergeschoss.
Dort begrüßten mich zwei Herren, die sich als Ärzte vorstellten. Ich musste mich unter ihren prüfenden Blicken völlig ausziehen und auf eine geheizte Pritsche legen.
„Herr Krambach, wir werden Sie jetzt in einen Tiefschlaf versetzen. Keine Angst. Sie werden nichts spüren. Selbst die Narkoseinjektion ist absolut schmerzlos. Wenn Sie wieder erwachen, beginnt die Studie. Wie es weitergeht, erklären wir Ihnen dann.“
Nun wurde mir doch sehr mulmig zumute. Eine Narkose? Tiefschlaf? Was um Himmels willen hatten die mit mir vor? Nun, ich kann ja jederzeit abbrechen und das Geld auf jeden Fall mit nach Hause nehmen, beruhigte ich mich wieder.
Den Einstich merkte ich wirklich kaum …

„Aufwachen! Herr Krambach! Aufwachen! Öffnen Sie die Augen!“
In meinem Kopf surrte und puckerte es. Ich war wach. Glockenwach! Gerade hatte ich die Narkosespritze bekommen und schon wieder munter? Wurde das Experiment abgebrochen?
„Da sind Sie ja wieder! Kommen Sie erst einmal in Ruhe zu sich. Ich schaue später nach Ihnen und beantworte Ihre Fragen!“
Die grün bekittelte Frau von vorhin verschwand aus meinem Blickfeld.
Direkt vor mir, etwas erhöht flimmerte es auf einem großen LCD: wieder das im Wind wabernde Kornfeld. „Wie das dort wohl im Frühling aussieht?“, fuhr es mir durch den Kopf.
Das Bild wechselte blitzschnell. Kleine grüne Getreidebüschel waren nun zu sehen. Dazwischen weiße Flecken. Tauender Schnee! Es donnerte und schwarze Wolken zogen auf. Dann prasselte ein Hagelschauer nieder.
Mich fröstelte. „Nee, lieber Sommer und Eisdiele. Wie gern wäre ich jetzt dort, um Milchkaffee zu trinken!“, dachte ich.
Sofort wechselte der Film abrupt: Geschirrklappern, Stimmengewirr. Ein dunkelhäutiger bezopfter Mann schwenkte akrobatisch ein riesiges Tablett mit gefüllten Eisbechern zwischen Tischen hindurch. Dann blieb er stehen und stellte mit stummem Nicken ein Glas Milchkaffee vor einen Gast. Der blickte auf …
Das war ja ich! Mein Gott!
Neben mir piepte ein Monitor hektisch. Grüne wellenartige Linien zuckten. Schläuche, Kabel und ein durchsichtiger, rot gefüllter Plastikbeutel mit einer langen Röhre, die zu mir führte, pumpte sich rhythmisch auf, zog sich wieder zusammen, pumpte sich auf, zog sich zusammen …
Was machen die mit mir? War dies das geheimnisvolle Experiment? Meine Gedanken in Filme umzusetzen? Mit mir als virtuellen Protagonisten? Und was war das hier für ein abgedunkelter, merkwürdiger Raum?
Ich war unfähig, mich zu bewegen. Noch nicht einmal meinen Kopf konnte ich drehen. Nur mit den Augen, die sich langsam an das Dunkel gewöhnten, konnte ich die Umgebung abtasten.
Überall flackerten irgendwelche Filme auf unzähligen Bildschirmen. Davor standen auf Rollwagen metallene, ca. halbmeter hohe Quader mit Hauben darauf, aus denen wirre Kabel führten. Neben jedem dieser Kästen blinkte ein Monitor mit ebensolchen Schläuchen. Wie bei mir.

Die Assistentin erschien neben mir aus dem Nichts. Sie drückte irgendwelche Tasten. Das Geräusch verstummte. Dann schaltete sie die Deckenbeleuchtung ein. Die Hauben auf den Metallbehältern wackelten leicht. Viele der LCDs erloschen.
Emsig machte sich die Frau gegenüber an einer der Hauben zu schaffen. Sie zog Drähte und Schläuche heraus und wechselte einen rot gefüllten Beutel gegen einen anderen. Dann entfernte sie vorsichtig die Plastikkappe.
Zum Vorschein kam ein kahl rasierter Schädel mit riesigen, abstehenden Ohren. Der kurze dicke Hals steckte, fest mit der Metallkiste verbunden, in einer gummiartigen Manschette. Nun säuberte sie mit einem Tupfer den Kopfbereich, zog die Kappe wieder über und befestigte sämtliche Zuführungsleitungen aufs Neue.
Entsetzt schaute ich ihrem Tun zu. Als hätte sie meine Blicke gespürt, wandte sie sich um und nickte mir mit beruhigendem Lächeln zu.
„Gleich bin ich bei Ihnen, Herr Krambach. Einen Moment noch!“
Sie drückte einige Tasten, das grüne Flackern am Kontrollmonitor setzte wieder ein. Nun kam sie auf mich zu.
„Wir wollen nicht so aufgeregt sein, lieber Herr Krambach. Schließlich sind wir doch noch gar nicht aufgeklärt worden. Ich werde Ihnen jetzt erst einmal unser Experiment erklären. Das wird uns beruhigen. Wie Sie ja selbst aus den Medien wissen, befindet sich unser Planet durch Klimawandel und daraus folgenden Katastrophen vor dem Kollaps. Wir müssen schnellstmöglich für alle Menschen eine vernünftige Lösung finden, ohne dass jemand auf seinen gewohnten Luxus verzichten braucht. Die Wissenschaftler unseres Institutes entwickeln Konzepte, die virtuelles, komfortables Leben unter Schonung sämtlicher Resourcen ermöglichen.
Sie, Herr Krambach, brauchen Ihren Körper nicht mehr! Kraft Ihrer Gedanken und ihren Vorstellungen können Sie das Leben führen, das Sie sich erträumen. Jeder Ihrer Wünsche wird so, wie Sie ihn denken, erfüllt. Sie treffen auf virtuellen Plattformen andere Menschen, kommunizieren mit ihnen und haben jederzeit die Möglichkeit, Ihre Persönlichkeit und Ihren gesellschaftlichen Status zu ändern. Nach einer Weile werden Sie lernen, gedanklich und gefühlsmäßig ein neues, wunderbar unabhängiges Leben aufzubauen. Weder Kummer noch Not werden maßgeblich sein. Sie brauchen nie wieder essen, werden keine körperlichen Beschwerden haben und sind bis zu Ihrem realen Tod – jedes Gehirn stirbt schließlich einmal – glücklich und zufrieden. Das Institut stellt Ihnen hierfür ein Startgeld zur Verfügung. Virtuell selbstverständlich. Denken Sie sich in einen Shop, kaufen Sie sich zu allererst was Schönes. Und dann richten Sie sich eine Wohnung ein und laden Freunde zur Einweihungsparty. Oder spekulieren Sie an der Börse. Natürlich können Sie ihr Geld auch zinsbringend bei einer Online-Bank anlegen. Und denken Sie daran: In der virtuellen Welt ist alles billiger, als im wahren Leben.
Sie werden sehen, es ist ganz einfach …!“

Nein! Nein und nochmals nein! Ich wollte das Experiment sofort abbrechen!
War ich etwa auch so ein Glatzkopf auf einem Metallkasten?Auf meinem Bildschirm erschien ein metallener Quader. Obendrauf ein Kopf unter einer durchsichtigen Plastikhaube mit Drähten und Schläuchen. Das Bild zoomte näher. Ich sah ein entsetztes Gesicht - mein Gesicht.

„Es tut mir leid, Herr Krambach. Wir können Sie nicht aus dem Versuch herausnehmen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Während Ihres künstlichen Komas sind einige Aggregate zur Konservierung der eingelagerten Körper ausgefallen. Vielleicht finden wir im Laufe der Zeit einen neuen, geeigneten Probanden, der für immer im virtuellen Leben bleiben möchte. Dann erhalten Sie selbstverständlich seinen Leib. Ich werde mit Professor Werner sprechen, Sie kennen ihn ja bereits.
Aber nun muss ich weiter. Im Nebenraum warten noch einige Kinder, die von ihren Eltern für das Experiment abgegeben wurden. Schließlich gibt es nur hier eine kindgerechte, freundliche Welt, in der sich die Kleinen richtig wohlfühlen können.
Auf Wiedersehen, Herr Krambach. Ich schaue morgen wieder nach Ihnen!“

( © Elke Kemna, 16. 3. 2007 )

... entstanden nach Lesen eines Spiegel-Artikels über "Seccond Life"

Freitag, 2. Mai 2008

Insel der verlorenen Seelen

(c) Elke Kemna



Tag 1
Heute beginne ich mit den Aufzeichnungen.
Die Flut hat eine der vielen Kisten an Land gebracht.
Welcher Schatz! In einer Kupferschatulle befanden sich Schreibzeug, in Öltuch eingewickeltes Papier und das Bordbuch. Der letzte Eintrag vom Kapitän war vom 13. April 1894.
Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Vielleicht zwei Wochen, vielleicht mehr? Ich weiß es nicht.
Niemand hat den Sturm überlebt. Sie sind alle von Bord gespült worden oder festgebunden an den Masten, elendig ersoffen, als das Schiff kieloben am Korallenriff strandete. Nur der Hund hatte mit mir schwimmend das rettende Eiland erreicht.
Smurre! Mein treuer Begleiter.

Tag 2
Ich bin mehrmals zum Wrack geschwommen. Es droht auseinander zu brechen. Als ich zur Kombüse hinab tauchte, entdeckte ich den Smutje. Festgezurrt schaukelte seine Leiche sanft, als würde er sich immer noch zum Gesang der Matrosen wiegen. Armer Kerl.
Ich nahm nur ein Messer und den kupfernen Kessel mit. Luftnot trieb mich wieder nach oben.
Das Schiff schrie und stöhnte in den wütenden Wellen. Noch ein paar Mal tauchte ich zu den Kojen im Vorderdeck hinab, holte allerlei Nützliches und schwamm mehrmals mit meinen Schätzen zurück zur Insel und wieder zum Schiff.
Es wird bald dunkel. Meine Wunden brennen fürchterlich. Dieses verfluchte Salzwasser. Ich muss mir wohl ein paar Tage Pause gönnen.

Tag 3
Smurre brachte mir heute Morgen einen toten Affen. Hechelnd stand der Hund vor mir. Wir wussten beide nichts mit dem Gesellen anzufangen. Also schmiss ich ihn ins Meer.
Das Schiff ist weg! Es musste in der Nacht auseinander gebrochen und gesunken sein.
Vorher hatte es noch Sören und den Smutje freigegeben. Sie trieben im seichten Wasser der Lagune. Ich habe sie abseits am Strand begraben.

Tag 6
Mein Hunger nach Fleisch ist unbeschreiblich. Auf der Insel gibt es genug Früchte, um meinen Durst zu stillen. Aber sie machen immer mehr Appetit auf Gebratenes. Smurre bringt oft tote, graue Fellwesen mit riesigen blanken Augen. Sie haben buschige, schwarz-grau gestreifte Schwänze. Ob man sie essen kann? Der Hund jedenfalls scheint satt zu sein. Manchmal höre ich ihn von irgendwoher kläffen. Später dann streckt er sich hechelnd und glücklich zu meinen Füßen.

Tag 12
Die letzten Tage war ich fiebrig und zu schwach zum Schreiben. Durchfall plagte mich und ich musste mich tagelang erbrechen.
Der Regen hat endlich aufgehört. Seit Wochen sehe ich zum ersten Mal einen Sonnenuntergang. Morgen werde ich mit Smurre noch weiter ins Inselinnere vordringen. Es muss irgendwo eine Quelle geben, denn der Hund trinkt nie von dem aufgefangenen Regenwasser.

Tag 14
Gestern haben wir einen kleinen See gefunden. Ich badete zum ersten Mal seit Monaten. Herrlich. Smurre bellte aufgeregt am Rand. Ihm war das Wasser unheimlich. Dabei war es viel schöner als das Salzwasser, in dem er sonst tobte. Später entdeckte ich einen riesigen Baum, unter dem rote, glitschige Früchte mit pelziger Schale lagen. Vorsichtig probierte ich ein paar von ihnen. Das Fruchtfleisch schmeckte sauer vergoren. Aber es geht mir immer noch gut.

Tag 209
Viele meiner Aufzeichnungen sind zerstört. In der letzten Nacht herrschte ein fürchterliches Gewitter. Ein Blitz schlug in den Baum neben meiner Behausung ein. Ich konnte nur wenig retten, bevor meine mühsam gebaute Hütte nieder brannte. Leider sind viele Aufzeichnungen und das Bordbuch vernichtet worden. Hätte ich sie doch blos in die Schatulle eingeschlossen. Aber ich habe glühende Holzstücke geborgen und sitze jetzt hier an knisterndem Feuer. Morgen werden Smurre und ich Affen jagen gehen. Keine rohen, glitschigen Fische mehr. Endlich Fleisch!

Tag 211
Der Affe schmeckte widerlich. Auch der Hund mochte ihn nicht. Er jagt weiterhin Felltiere und verzehrt sie mit Genuss. Ich habe heute wieder in der Lagune Fische mit einem angespitzten Ast gefangen und gebraten. Köstlich. Sie schmecken um Vieles besser als das rohe, lauwarme Fischfleisch, von dem ich mich bisher ernährte. Ich spreche viel mit Smurre und singe ihm Lieder vor. Jetzt verstecke ich mein Geschriebenes abends immer, sicher in Ölpapier eingepackt, außerhalb der Hütte in einer Kupferschatulle.

Tag 228
Ich muss sparsamer mit dem Papier umgehen. Ich beschreibe schon die Rückseiten. Meine neue Hütte ist fast fertig. Abgebrochene Äste gibt es im Inselinneren genug. Dazwischen flechte ich riesige Blätter und belaubte Zweige. Ich habe einen Vorrat der roten Früchte angelegt. Wenn sie ein paar Tage in der Sonne liegen, wirkt ihr Genuss, fast wie mit Wasser verdünnter Rum. Manchmal werde ich aber auch unendlich traurig und einsam.
Jeden Tag gehe ich zum Meer. Vielleicht fährt irgendwann ein Schiff vorbei? Ich schreibe jetzt nur noch, wenn etwas Wichtiges passiert.

Tag 321
Heute habe ich die Insel umrundet und Smurre gesucht. Vorgestern Nacht hörte ich ihn irgendwo verschreckt jaulen und kläffen. Er ist bis jetzt nicht wieder gekommen.
Ich bin verzweifelt. Mit wem soll ich mich jetzt unterhalten?

Tag 329
Smurre ist tot. Ich habe seinen verwesenden Körper gefunden. Riese Schmeißfliegen wiesen mir den Weg. Er lag, kaum zwanzig Meter von meiner Behausung entfernt, im Dickicht. Armer Smurre. Was war nur mit ihm geschehen? Ich begrub ihn dort, wo ich ihn fand. So bleibt er wenigstens in meiner Nähe.

Tag 337
Ich werde langsam verrückt. Seit ein paar Tagen rede ich nicht nur mit mir, sondern antworte mir anscheinend auch, ohne dass ich merke, dass ich es bin. Eine meiner Stimmen scheint sich zu verändern. Heute Morgen fragte sie mich gebrochen Dänisch, ob ich Tee trinken wolle. Die Stimme nennt sich Sören. Ich schimpfte, dass es hier keinen Tee gäbe. Kurz darauf fand ich den Kupferkessel mit brodelndem Teichwasser, in dem grüne Teeblätter schwammen, auf dem Feuer. Wie mag der dorthin gekommen sein?
Sören? Irgendwo her kenne ich den Namen. Ich habe es vergessen.

Tag 352
Sören ist jetzt immer hier. Manchmal sehe ich ihn auch. Aber meist versteckt er sich hinter der Hütte. Ich weiß nicht, woher er kommt. Als ich ihn fragte, drohte er weg zu gehen und nie wieder zu kommen. Also schweige ich und finde es schön, abends am Feuer zu sitzen und mit ihm alte Kinderlieder zu singen.

Tag 360
Vorhin sah ich einen dunklen Fleck weit draußen auf dem Meer. Er bewegte sich nicht und blieb konstant bis zum Einbruch der Dämmerung an derselben Stelle. Es muss ein Schiff sein. Wahrscheinlich liegt es dort vor Anker. Wenn es morgen noch da ist, werde ich hinüber schwimmen. Sollte ich ertrinken, wäre das immer noch besser, als hier zu sterben.

Tag 362
Das Schiff am Horizont ist verschwunden. Ich habe schrecklich geweint als ich in der Bucht war. Sören hat mich getröstet und mir versprochen, jetzt immer sichtbar zu bleiben. Er ist so lieb. Morgen wollen wir gemeinsam im Meer schwimmen gehen. Ich habe Angst vor den hohen Wellen. Sturm zieht auf. Aber er lacht nur. Er wird mich schon retten, falls es gefährlich wird, meint er. Und er will noch einmal mit mir zu dem versunkenen Wrack tauchen. Es liegt tief unten im Korallenriff.. Wir müssen unsere Körper beschweren um hinunter zu kommen, meint er. Er hat recht. Dann könnten wir es schaffen.


„Hey, hierher! Los, Kinder, kommt hierher! Ich hab was entdeckt! Lisa! Michael!“
Lisa bahnte sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp.
„Was ist, Papa?“ Hast Du einen Affen gefunden?“
„Nein. Der wäre bei meinem Gebrüll längst über alle Berge. Wo ist Michael abgeblieben?“
„Der ist wieder zum Katamaran zurück geschwommen. Er hat doch Angst vor Schlangen. Das weißt Du doch. Was hast Du denn entdeckt, Papa?“
„Schau mal. Ein ganz alter Kupferkasten. Er ist völlig verfärbt. Das nennt man Grünspan. Was da wohl drin ist? Der Kasten ist ja unheimlich schwer …
Und guck mal dort hinten! Da liegt ein verbeulter Kessel. Auch ganz grün. Das Zeug muss hier schon lange vor sich hin rotten. Komisch, dass es noch nicht überwuchert ist.“
„Pappii! Ich hab Hunger! Lass uns zum Hotel zurück segeln. Schmeiß die doofen Sachen weg. Komm jetzt. Ich will von dieser blöden Insel fort!“
Lisa zerrte Herrn Müller aus dem Dickicht zum Strand. Sie sahen, wie sich ein junger, braun gebrannter Mann an einem Schwert des Katamarans festklammerte und mit Michael unterhielt. Als sie in die Nähe des Seglers kamen, drehte er sich weg und schwamm aufs Meer hinaus.
„Was wollte der denn von dir?“
„Ach, lass mich in Ruhe, neugierige Zicke! Musst Du immer alles wissen?“
„Michael, hör auf, deine Schwester zu ärgern. Sag schon, was wollte der junge Mann?
„Ach der. Der spinnt. Er heißt Sören und wohnt hier auf der Insel. Und er meint, dass wir heute Nacht hier bleiben sollen, weil ein fürchterlicher Sturm aufzieht. Wir würden es keinesfalls bis zur Nachbarinsel und unserem Hotel schaffen.“
„Das verstehe ich nicht. Der Himmel ist völlig klar und Wind haben wir auch kaum. Kommt, Kinder, helft mit und schiebt das Boot hinaus. Wir segeln zurück. Ich bin auch hungrig. Bei der leichten Brise brauchen wir mindestens drei Stunden.“

Die drei erreichten das Hotel nicht. Weder ihre Leichen noch der Katamaran wurden je gefunden.

Seit jenem Tag sehen die Urlauber von den Hotelanlagen aus, vor dem ersten großen Taifun zu Beginn der Regenzeit, eine kleine Insel weit draußen auf dem Meer auftauchen. Von den ersten, schweren Regenwolken umrahmt, ist sie weithin sichtbar. Wunderschöne Lieder klingen übers Wasser. Klar und hell singen Kinder und mehrere tiefe Männerstimmen begleiten sie. Wer sie auf See hört, dreht schnell bei, um den sicheren Hafen zu erreichen.
Kurz darauf beginnt der Sturm.

Ein paar Tage später verschwindet die Insel und wird erst ein Jahr später wieder gesehen, wenn der Monsun auf Neue beginnt
(c) Elke Kemna

Donnerstag, 1. Mai 2008

Nightmare

Rhythmisches, lautes Meeresrauschen weckte mich. Möwengeschrei und das nervige Tuten eines Nebelhorns machten mich vollends munter.
Verdammt! Welch schauriges Erwachen.
Ich hatte gestern anscheinend einen falschen Modus eingeschaltet – zu laut obendrein. Normalerweise ließ ich mich von säuselndem Wind und Vogelgezwitscher wecken. Da hatte ich mich wohl in der Nacht versehentlich vertippt. Diese verflixten Pillen auf der Fete. In meinem Kopf brummte der Motor eines alten Propellerflugzeuges.
Suchend tastete ich nach der Fernbedienung, schaltete die Lautsprecher leise und die Lichtdusche an. Das war schon besser. Ich stellte die Zeituhr auf 10 Minuten. Nun noch ein bisschen warme Windmassage zugeschaltet und der Tag konnte beginnen.
Langsam kehrten meine Lebensgeister zurück. Vorsichtig drehte ich mich auf den Bauch, reckte mich wohlig und schloss die Augen. Alltagsgeräusche kamen nur noch aus weiter Ferne ...
Nach einiger Zeit fuhr die Plexiglashaube meines Bettes surrend nach oben. Das Licht ging aus und die Geräusche verstummten.
Ein Blick auf die Uhr ließ mich hochfahren.
„Mein Gott, schon so spät? Lisa! Lisa …?“
Ich stand auf und schlurfte nackt zum Fenster. Bleigrauer Himmel und Nieselregen war nicht gerade das, was mich an einem Sonntagmorgen erfreute. Lisas Bett war unberührt. Anscheinend hatte sie mich gestern Nacht nicht nach Hause begleitet. Schade eigentlich.
Ich schlappte in den Flur zum Servicecenter; Drei neue Nachrichten warteten auf dem Bildschirm darauf, gelesen und bestätigt zu werden.
Haustür geöffnet um 23.54.11 – Haustür geschlossen um 23.55.01 – Haustür unverriegelt
Aha! Also war ich doch nicht so spät nach Hause gekommen.
Hallo Uli! Ich übernachte heute bei Manuel. Gruß Lisa
"Manuel, du Schuft. Darum hast du mir also so viele Smilie-Pillen spendiert. Hst' dich an meine Freundin rangemacht!"
Sie haben einen neuen Anruf von 05353219967 um 8.32 Uhr
Wollen Sie mit dem Anrufer jetzt verbunden werden, drücken Sie die 1
Wollen Sie den Anrufer zu einem späteren Zeitpunkt zurückrufen, drücken Sie die 2
Anruf ignorieren und löschen, drücken Sie die 3
Die Nummer war mir absolut unbekannt. Wer konnte das sein? So früh am Sonntag? Ich würde mich gleich darum kümmern. Erst einmal programmierte ich den Duschverlauf – heute würde ich mir zusätzlich eine Wassermassage und ein paar Minuten Solarium gönnen.
Duschvorgang wird nach Aktivierung eingeleitet
Volles Frühstücksprogramm? Nee, keinen Hunger. Also nur Kaffee und Surrogat. Ich tippte das Gewünschte ein.
Surrogatvorrat reicht noch für 3 Portionen. Bitte nachbestellen Wählen Sie Bestelloptimierung und drücken Sie die Enter-Taste
Kaffee- und Surrogatherstellung wird jetzt eingeleitet
Nun wählte ich den Telefonmodus aus, drückte die Ziffer eins für die Verbindung und aktivierte auf dem Bildschirm
Teilnehmer sehen, eigene Kamera aus
Schließlich wollte ich wildfremden Menschen meinen verkaterten Anblick ersparen.
Verbindung ist hergestellt. Teilnehmer ist online. Bitte drücken Sie die Enter-Taste, um das Gespräch anzunehmen
„Martens. Firma Corondance-Germany GmbH. Guten Tag Herr Kroll. Schön, dass Sie gleich zurückrufen.“
„Guten Tag Herr Martens … ?“
Der Bildschirm flackerte:; Ein mir völlig fremder Mann saß vor einem weißen Schreibtisch in einem weißen Raum. Auch an ihm war alles weiß: Seine Haare, seine Kleidung, selbst die Haut seines Gesichtes war durchscheinend blass und passte sich der Farbe der Umgebung an. Während der Begrüßung tippte er auf einer blinkenden Tastatur herum.
“Ich habe letzte Woche vom Aufsichtsgremium Ihre Bewerbung übersandt bekommen. Man möchte Sie aufgrund der hervorragenden Zeugnisse und langjährigen Erfahrungen im EDV-Bereich zu einer Firmen-Führung und einem ersten Gespräch einladen.“
„Oh, das freut mich aber sehr. Ich hatte schon gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet!“
„Wir haben Ihre Bewerbungen ausführlich geprüft. Wie Sie ja bereits aus der Ausschreibung wissen, handelt es sich um eine außergewöhnliche Vertrauensstellung. Ich möchte kurzfristig einen Vorstellungstermin mit Ihnen vereinbaren.“
„Ich bin arbeitslos und kann jederzeit vorbeikommen.“
"Gut, Herr Kroll! Sehr gut! Passt es Ihnen heute um elf Uhr? Sonntags sind wir ungestört.“
„Ja, das lässt sich einrichten“, antwortete ich lässig.
„Schön. Ein Firmenwagen wird Sie etwa eine halbe Stunde vorher abholen. Wir freuen uns auf Sie. Auf Wiederhören“
Bevor ich mich verabschieden konnte, wurde die Verbindung getrennt.
Merkwürdig. Man holte mich ab? Am heiligen Sonntag? Egal. Hauptsache in die engere Auswahl gekommen zu sein! Vielleicht klappte es ja endlich mit einem Job. Die Kosten für das Haus wuchsen mir langsam über den Kopf.
Nun musste ich mich beeilen. Ich duschte nur kurz, zog meinen besten Anzug an und schlürfte meinen Kaffee aus einem Pappbecher vor der Haustür.

Pünktlich hielt ein Wagen mit grau verspiegelten Scheiben an der Bordsteinkante. Die hintere Flügeltür schwang nach oben.
"Tolle Karre", dachte ich und ließ mich auf weiche Lederpolster fallen. Der Flugzeugmotor in meinem Kopf war endlich verstummt. Ich würde denen schon zeigen, was für ein kluger Kerl ich war und dass gerade ich der Geeignetste für diesen Job sein würde.
Vor mir befand sich eine blickdichte Trennwand im Auto. Ich konnte weder nach draußen, noch auf den Fahrer schauen. Das war allerdings sehr merkwürdig. Wir waren hier doch nicht bei der Mafia, oder?
Lautlos setzte sich der Wagen in Gang. Wohin fuhren wir? Wurde ich entführt? Dann wurde es ganz plötzlich schwarz um mich …

Ich erwachte fröstelnd auf einer schmalen Liege in einem kleinen, kahlen Zimmer. Was war geschehen? Wie war ich hierher gekommen? Angst beschlich mich. Was hatten die mit mir vor?
„Da sind Sie ja wieder, Herr Kroll! Sie hatten wohl einen kleinen Schwächeanfall. Unser Fahrer hat Sie hier hereingetragen. Nun, wir haben Ihnen ein Kreislaufmittel gespritzt, es sollte Ihnen jetzt besser gehen."
Der zierliche Mann, es war Herr Martens, sah in Wirklichkeit noch blasser und durchscheinender aus, als auf dem Bildschirm.
„Bitte stellen Sie jetzt keine Fragen, sondern schauen Sie sich ihr neues Aufgabengebiet in Ruhe an. Sie dürfen sich im Institut frei bewegen. Aber respektieren Sie, dass Sie das Gebäude nicht verlassen können. Wenn Sie mit der Besichtigung fertig sind, drücken Sie auf den Piper. Ich orte Sie und bringe Sie dann zu unserem Prüfungsgremium.“
Er übergab mir einen kleinen Sender, drehte sich um und winkte abwehrend, ihm nicht zu folgen. Dann verschwand er hinter einer Schiebetür.
Unerwartet fit und erwartungsvoll machte ich mich auf Entdeckungsreise.
Surrend schob sich, wie von Geisterhand bewegt, eine andere Trennwand zur Seite. Ich betrat ein merkwürdiges, großflächiges Gebäude. Das halbrund gebogene Dach bestand aus einem transparenten Kunststoffmaterial, durch das man den grau verhangenen Himmel sehen konnte. Das Klima hier drinnen war nahezu unerträglich feucht und sehr warm, fast wie in einem Tropenhaus, allerdings fehlten entsprechende Pflanzen.
Die Umgebung wirkte kahl und steril.
Ringsherum waren Schuhkarton große Glasbehälter bis unter die Decke in Regalen gestapelt. Es mochten Hunderte sein. Auf den ersten Blick wirkte das Wasser in den Gefäßen wie eine morastig braune Brühe. Über jedem der Bottiche schwebte eine rot leuchtende Halogenlampe. Vorn an den Scheiben waren jeweils Mikro-Kameras befestigt. Ich hörte Wasser blubbern und tröpfeln. Hier und da summte eine Pumpe. Die daran angeschlossenen Schläuche führten in zusammengebundenen Strängen zu den Regalen und dann einzeln in die Aquarium ähnlichen Behältnisse, an denen bunte LED-Lämpchen blinkten. Die meisten pulsten grünes Licht, einige wenige flackerten rot.
Verwirrt schaute ich mich um. Was sollte ich hier? Und was zum Teufel war in den Aquarien? Staunend ging ich weiter durch die riesige Halle.
In einer Ecke, etwas versteckt abgeteilt, entdeckte ich eine Art Kontrollbereich mit Bildschirmen und Tastaturen. Vielstimmig summten Lüfter. Die dort stehenden Großrechner ähnelten der Anlage, die ich früher in einem Rechenzentrum bedient hatte. Jetzt begriff ich! So sah also mein neuer Arbeitsbereich aus: Aquarien kontrollieren und irgendeine Aufzucht von Wasserpflanzen oder Fischen überwachen. Könnte mir gefallen! Sah ziemlich easy aus. Hoffentlich bekam ich den Job.
Ein gemütlicher Drehstuhl lud zum Sitzen und Erforschen der Elektronik ein. Selbst an Verpflegung hatten sie gedacht. Reichliches Frühstück und dampfender Kaffee standen auf einem kleinen Tischchen neben der Konsole. Mann, war ich hungrig! Ich aß und trank ausgiebig. Nebenbei schaltete ich neugierig einen der Bildschirme ein. Auf der Oberfläche erschienen viele kleine Vorschaubildchen der Glasgefäße. Ich markierte eines zum Vergrößern. Nichts weiter zu sehen, als ein wassergefülltes Aquarium. Also weiter zum nächsten Bild. Wieder das gleiche. Weiter ...
Mein Gott! Was war das? Hatte ich Halluzinationen?
Ein kleines, blasses Händchen zur Faust geballt. Es ruderte ruckartig in der rot angeleuchteten Brühe umher. Da! Ein zweites Ärmchen …
Verschwommen konnte ich die Umrisse eines Embryos wahrnehmen: Kleine Beinchen bewegten sich träge in der Flüssigkeit. Dann drehte sich das Wesen schwerelos wie in Zeitlupe. Sein Kopf war jetzt ganz nah an der Scheibe. Ich zoomte näher. Die hohe Bildschirmauflösung ließ mich jede Kontur seines Gesichtes erkennen. Ein Baby. Ein spielzeugkleines, schwimmendes Baby.
Ich klickte das Bild weg, vergrößerte ein anderes ... und noch eins ... und noch eins ...
In jedem Becken waren winzige, weiße, völlig gleich aussehende geschlechtslose Föten. Manche schliefen ausgestreckt, einige bewegten sich träge, andere sogen an ihren Fingern und wieder andere hatten sich zu Kugeln zusammengerollt. Aber alle hatten eines gemeinsam: Sie waren viel zu klein für normale Babys.
Ich aktivierte einen anderen Schirm. Wieder unzählige Thumbnails. Und dann klickte ich auf die furchtbarsten Bilder, die ich je gesehen hatte: In verschiedenen Gefäßen mit glasklarer Flüssigkeit schwebten, getrennt nach Arten, unzählige winzige Körperteile: Arme, Beine, Ohren und klitzekleine Organe. Ein Behältnis war bis unter den Rand mit murmelgroßen Augen gefüllt, in einem anderen schwebten zuammengeballte, fingerlange Därme …
Von Entsetzen gepeinigt sprang ich auf und riss dabei den Frühstückstisch um.
Raus! Raus, nur raus und weg hier!
Aber die Trennwand, durch die ich gekommen war, hatte sich geschlossen. Ich wühlte nach dem Piper in meinen Taschen. Nichts. Ich hatte ihn wohl auf dem Tisch liegen gelassen. Nur nicht zurück dorthin! Nur nicht diese Bilder sehen müssen.
Ich brüllte! Kreischte! Ich schlug mir die Fingerknöchel blutig und trat gegen die Wand!
Nichts. Sie öffnete sich nicht …
Je länger ich schrie, desto stärker schwappte die Flüssigkeit in den Bottichen. Kleine braune Pfützen bildeten sich vor den Regalen. Dann platzte das erste Glasgefäß! Mit dumpfem Geräusch platschte etwas auf den Boden. Scherben klirrten. Nur nicht hinschauen. Noch ein Behältnis zerbarst. Wieder das grausige Geräusch. Immer mehr Bottiche zerbrachen.
Ich schrie weiter um Hilfe, halb wahnsinnig vor Grauen und Angst.
Dann pisste ich mich ein …

„Uli! Uli! Wach auf! Hör auf zu schreien. Hey! Wach auf!“
Mühsam öffnete ich meine Augen.
„Du hast geträumt. Hey! Werd' endlich wach!“
Lisa stand vor meinem Bett. Sie hatte die Kunststoffabdeckung hochgeklappt und rüttelte an mir herum.
„Mann! Du schreist die ganze Zeit. Was war das denn für ein Traum? Hätt'ste mal gestern nicht so viele Pillen eingeworfen! Du Heini!"
Benommen rappelte ich mich auf. Meine Blase drückte. Völlig heiser flüsterte ich: „Nee, lass mal, Lissie. Muss dringend aufs Klo …“

Verwirrt und noch völlig von dem grausamen Traum gefangen, schlurfte ich ins Bad. In meinem Kopf brummte wieder der Flugzeugmotor. Oh Gott, musste ich gestern breit gewesen sein!
Auf den Fliesen lagen zusammengeknüllt Unterwäsche, Socken und das Jackett. Mein bester Anzug! Der war hin. Als ich den Klodeckel hochklappen wollte, durchzuckte mich ein stechender Schmerz: Die Fingerknöchel meiner Hände waren dick geschwollen und verschorft von geronnenem Blut.
Und dann entdeckte ich meine Anzughose über der Badewanne. Sie hatte riesige feuchte Flecken. Der Stoff war dunkel verfärbt und auf dem Boden hatten sich kleine, braune Pfützen gebildet.
Oh Scheiße!
Übelkeit stieg in mir auf. Der unbändige Drang, mich zu übergeben, wich einer alles überdeckenden tröstlichen Schwärze.
Ich wurde ohnmächtig ... und hörte nicht mehr wie Lisa nebenan zeterte: „Wenn du dich noch einmal wegen mir mit Manuel schlägst, komm ich überhaupt nicht mehr nach Haus! Ich verlasse dich! Hörst Du? Ich hab die Schnauze voll von deiner Eifersucht! Und jetzt beeil dich mal! Um Elf hast du das Vorstellungsgespräch bei der Biotechfirma!“
(c) Elke Kemna

Montag, 28. April 2008

Schmetterling und Taucherglocke

Ich lese gerade ...

Schmetterling und Taucherglocke von Jean-Dominique Bauby

Kann ein Mann, der nach einem Hirninfarkt am gesamten Körper gelähmt ist und nur durch Zucken seines Augenlids mit der Außenwelt kommuniziert, ein authentischen Buch schreiben lassen? Das noch dazu erfolgreich verfilmt wird?
Er kann.
Eben durch dieses Zucken, bzw. Blinzeln diktiert er seine Gedanken anhand von einer Sekretärin des Verlages hochgehaltenen Buchstabentafeln. Buchstabe für Buchstabe entstehen lesbar gemachte Gefühle, Wut , Trauer, Ironie, Sarkasmus und viele Erinnerungen an sein vorheriges Leben.
Bauby beschreibt seine Innenwelt, wie das Leben in einer Taucherglocke - aber seine Gedanken fliegen wie Schmetterlinge umher. Gleichzeitig wird ihm bewusst, und das teilt er im Roman völlig unsentimental, manchmal verbittert, aber an vielen Stellen mit aberwitzigem Humor mit, dass er nun "nach dem Leben und vor dem Tod" alle Zeit der Welt zum Denken und Erinnern hat - und Zeit für grenzenlose Phantasien.
Erschreckend liest man aber auch von Bauby, welche schlimmen Erfahrungen der am Locked-in-Syndrom Erkrankte mit Pflegern und Ärzten macht, die ihn kaum noch wahrnehmen, nicht mehr für voll nehmen, abgeschrieben haben, wie entwürdigend er sein Schicksal empfindet, von distanzlosen witzelnden Schwestern gewindelt zu werden. Und dann wieder teilt der Journalist seine unendliche Sehnsucht mit, seinen Sohn umarmen zu wollen.
Vergeblich.

Fazit: Ein emfehlenswertes Buch für Leser, die sich auf dieses Schicksal einlassen möchten und können.
Ich bin sehr beeindruckt und werde es sicher noch einmal lesen.

Hier noch ein Link zu weiteren Beschreibungen und Ausschnitte des gleichnamigen Films
http://www.schmetterling-und-taucherglocke.de/start.html

Sonntag, 20. April 2008

Ich lese gerade ...

Fahrenheit 451 von Ray Bradbury
in der Übersetzung von Fritz Güttinger (1955)
Auszug und gekürzte Inahltsangabe aus Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Fahrenheit_451_(Roman)

Fahrenheit 451 spielt in einer Welt, in der es als schweres Verbrechen gilt, Bücher zu lesen oder gar zu besitzen. Die Gesellschaft wird vom politischen System abhängig, anonym und unmündig gehalten ...

Hauptperson des Romans ist der Feuerwehrmann Guy Montag, der zunächst kritiklos in diesem System funktioniert. Durch die 17-jährige Clarisse lernt er die Kunst der Worte, den Wert freien Denkens und die Schönheit der Natur kennen. Heimlich liest er Bücher und beginnt die Welt mit anderen Augen zu sehen ...

Die Gesellschaft im Roman ist sehr monoton aufgebaut. Ihr Ziel ist es, die Bevölkerung ununterbrochen mit simplen Mitteln zu beschäftigen und sie so von wichtigen Ereignissen wie Kriegen abzulenken. Dies wird zum Beispiel mit Fernsehshows erreicht, die über Videoleinwände im heimischen Wohnzimmer zu schauen sind und an denen sich die Zuschauer beteiligen können, aber auch durch große Vergnügungsparks ...

Menschen, die Bücher besitzen und lesen, sind Staatsfeinde, die verfolgt werden. Ihre Häuser und Bibliotheken werden von Feuerwehrmännern angezündet, wobei zum Teil auch Tote in Kauf genommen werden.

Diese Verfassung der Gesellschaft wurde allerdings nicht durch die herrschende, totalitäre Regierung selbst herbei geführt.
Vielmehr haben sich die Menschen durch ihren steigenden Medienkonsum, insbesondere durch das Fernsehen, selbst in diese Lage gebracht.

Meine Meinung dazu:
Wenn man überlegt, zu welcher Zeit der Autor das Buch schrieb (1953) und wie weit wir jetzt schon in unserem und in anderen "demokratischen" Staaten gekommen sind! Erschreckend!
Und noch schockierender finde ich, dass wir auf dem besten Weg zu einem totalitären Überwachungsstaat sind - im Guten wie auch im Bösen!

Ein sehr empfehlenswertes Buch, das zum Nachdenken über unserer ganz persönliches Verhalten und Stillhalten in unserem Land anregt. Werden "wir" auch schon mit Hilfe von verblödendem Medieneinheitsbrei dumm, bequem und sprachlos gemacht?

Mittwoch, 16. April 2008

Teufel und Belzebub

Heute war ich, wie jeden Morgen, mit meinem Hund in den Feldern unterwegs.

Von vorn begegnete mir ein Trecker mit Anhänger - darauf ein riesiges gelbes Fass und eine eingeklappte Sprühvorrichtung.
Kurz darauf musste ich erneut einem ähnlichen Gefährt ausweichen.
Die Landmaschinen fuhren rechts und links auf Felder mit handhoch gewachsenem Getreidegrün, klappten ihre Sprühanlagen aus zogen dann laut und stinkend ihre Bahnen. Dabei vernebelten sie mit süßlich scharfem Duft, den der Wind bis zu uns trug, die Landschaft.

Ich bemerkte, wie sich in unmittelbarer Nähe ein Feldhase duckte. Es ist Setz- und Schonzeit! Hunde müssen in Wald und Wiesen angeleint bleiben. Richtig so.

Aber ... wer schützt Hasen und Wildkaninchen, (keine Fluchttiere, sie ducken sich bei drohender Gefahr) vor Treckern und Chemieduschen?

Unsere Wildtiere werden zunehmend gefährdet - ja, ausgerottet und die Nester von Bodenbrütern z. B. Feldlerchen und Kiebitze, durch intensive Landwirtschaft zerstört.
Jetzt wird auch noch BIO-Sprit gefördert, die intensive Spritzungen und Chemiedünger bedürfen. Unzählige BIO-Gasanlagen für nachwachsende Rohstoffe (Rapps, Mais, Klee) werden gebaut.
Das bedeutet: höheren Einsatz von Pestiziden, Herbiziden, Phosphatdüngung und großflächige Rekultivierung vormals brachliegender Flächen. Der Schutz unserer Fauna und Flora bleibt dabei außen vor.

Sehr still bin ich nach Hause gegangen - mit einem pausenlos niesendem Hund und traurigen Gedanken. Viele der wenige Wochen jungen Feldhasen werden diesen Morgen nicht überlebt haben. Im Gegensatz zu Kaninchen leben sie nämlich nicht in geschützten Höhlen, sonder ducken sich, gut getarnt, vom Tag ihrer Geburt an zwischen Gräsern und in Getreidefeldern. In eben diesen Feldern ...

Anstatt Energiegewinnung aus Sonne, Wind und Erdwärme weiter zu erforschen, zu fördern und zu forcieren wird unser aller natürlicher, autarker Lebensraum immer kleiner.

Treiben wir den Teufel mit dem Belzebub aus?
Ist diese Art von Umweltvergewaltigung im Sinne unseres "Blauen Planeten"?