Freitag, 4. Januar 2008

Abschied




Schneeflocken wehten dicht wie ein vorsichtig geschwungenes Seidentuch in sanften Wellen an der Loggia im 5. Stock eines Hochhauses vorbei. Es dämmerte. Im Zwielicht der Straßenlaternen und des bleigrauen Himmels fuhren Autos mit surrend durchdrehenden Reifen an einer grün umschaltenden Ampel an.
Margarethe schaute auf das Stieben der Flocken hinaus und hinunter auf die Grünanlage, die sie vor langer Zeit als Gärtnerin gepflegt hatte.
Vorbei – seit Jahrzehnten.
Sie schaute hinüber zur alten Mühle, die noch immer ihre erstarrten, morsch-kranken Flügel in das Schneetreiben streckte. Täglich war sie dort mit ihrem Mann und dem Hund spazieren gegangen, auf endlosen Wegen weit in die Felder hinein.
Vorbei – seit Jahrzehnten.
Ihr Mann war verstorben, ihr Hund schon lange im ehemaligen Schrebergarten begraben.

Die alte, sehr zierliche Frau auf dem Balkon seufzte, reckte ihr Gesicht dem Schneegrieseln entgegen und streckte die Zunge heraus, um wie ein kleines Kind ein paar von den Flocken darauf schmelzen zu lassen. Resolut schüttelte sie mit greisen, Gicht verkrümmten Händen ein paar Tropfen aus ihrem grau gesträhnten Pony und blickte fröhlich gestimmt hinunter auf das Treiben der hastig nach Hause eilenden Menschen. Die hatten schnell noch die letzten verkaufsoffenen Stunden vor dem Heiligen Abend genutzt.
Margarethe ging wieder hinein, durch das ausgekühlte Wohnzimmer, den Flur entlang, in die Küche. Durch die weit geöffneten Balkontür zog ein kalter Hauch aus Schnee und Feuchtigkeit.
Das funkgesteuerte Thermometer zeigte eine Außentemperatur von acht Grad unter Null.
„Genau richtig“, murmelte sie, „so habe ich mir den heutigen Tag gewünscht.“
Sie schob ein verschlissenes Rattantablett auf den Esstisch und begann es zu bestücken: Lieblingsfotos ihrer beiden Kinder - die längst erwachsen mit eigenen Familien im Umland wohnten - und ein Bild ihres Mannes, auf dem er zusammen mit dem Hund auf einem Herbstspaziergang zu sehen war. Aus ihrem mit Erinnerungsstücken, gebrauchtem Geschenkpapier, Einkaufstüten und nie gelesenen Büchern voll gestopften Flurschrank kramte sie eine Flasche guten Jahrgangsrotwein hervor und stellte sie zusammen mit einem schweren Überfangrömer dazu.
Unsicher tapsend, mit kleinen, trippelnden Schritten, ging sie ins Bad. Dort hing auf einem Bügel an einem Handtuchhalter die von ihr liebevoll für diesen glücklichen Tag ausgesuchte Kleidung. Sie zog sich bedächtig aus, duschte sehr
warm und massierte ihre alte, faltenwelke Haut mit wunderbar nach Arnika duftendem Öl. Danach schlüpfte sie in ein bunt geblümtes Sommerkleid, drehte die langen, grauen Haare zu einem Zopf und steckte ihn mit einer Perlmuttspange sorgsam am Hinterkopf fest. Nun noch die Augenbrauen etwas zittrig nachgezogen, ein wenig zartroten Lippenstift - fertig. Prüfend schaute sie in den Flurspiegel, drehte sich und blickte über ihre Schulter. Es gefiel ihr, was sie dort sah. Das Kleid, in dem sie ihren Mann vor fast sechzig Jahren das erste Mal begegnet war, passte immer noch. Etwas zu weit um die Hüften, nicht mehr der Mode entsprechend, viel zu kurz, aber sie liebte es immer noch.
Draußen begannen die Glocken zum ersten Nachmittags-Weihnachtsgottesdienst zu läuten. Margarethe ging zurück in die Küche und schaute zum Fenster hinaus auf die weiß überpuderten Dächer. Leise summte sie vor sich hin. Freudig kreischende Kinder tollten unten durch den frisch gefallenen Schnee der Kirche zu. Erwachsene schritten langsam hinterher. Es hatte aufgehört zu stöbern, sanft schwebten ein paar letzte, große Flocken zu Boden. Wie sehr hatten sich ihre eigenen Kinder damals immer über den ersten Schnee gefreut ...
Die kleine Frau sammelte die auf der Fensterbank gehorteten Schlaf- und Beruhigungstabletten zusammen und steckte die Blisterpackungen in eine Tasche des Kleides. Sinnend schritt sie durch die einzelnen Zimmer. Sie sah sich gründlich um.
„Die Pflanzen sind versorgt“, dachte sie. „Meine Wäsche ist gewaschen, die Betten gemacht und den Müll habe ich auch hinunter getragen“, überlegte sie weiter. „Meine Wohnung ist bestellt. Oder habe ich etwas vergessen?“

Lange Zeit verharrte sie im Wohnzimmer vor ihrer zerkratzten Kommode, schaute sich die alten, vergilbten Fotos an und betrachtete wehmütig die aufgereihten Paare Erstlingsschuhe ihrer Kinder. Ein letztes Mal pustete sie Staubflusen von der Holzplatte.
Margarethe schaltete die Stereoanlage an. Sie legte ihre Lieblings-CD „Ein Sommernachtstraum“ von Mendelssohn-Bartholdy ein und spannte den Funkkopfhörer etwas ungeschickt über die noch feuchten, frisch frisierten Haare. Dann tappte sie, das Tablett einigermaßen sicher ausbalancierend, auf den Balkon. Dort setzte sie es auf dem mit Tannengrün geschmückten Tisch ab.
Das erste Glas Wein trank sie stehend Schlückchen um Schlückchen im Wechsel mit einigen Beruhigungstabletten.

Es war nun völlig dunkel. Friedliche Stille legte sich über die Stadt. Nur hier und da drang ein Motorengeräusch leise und gedämpft durch den festgefahrenen Schnee. Margarethe steckte die elektrische Lichterkette ein. Bunte Mini-Sterne leuchteten nun die kleine, mit Waschbeton verkleidete Loggia aus. Feierlich reflektierte das weiß überpuderte Tannengrün die funkelnden Strahlen.
Den Zehnerriegel Schlaftabletten nahm sie mit einem weiteren Glas Wein. Vorsichtig, schon etwas benebelt und kraftlos, setzte sich die alte Dame auf einen der Frost kalten Teakholzstühle. Das Foto ihres verstorbenen Mannes entglitt ihren steifen Fingern. Egal …
Die Erinnerungen an Mann und Kinder bewahrte sie tief in ihrer Seele. Wozu noch Bilder betrachten? Mit verschwimmendem Blick schaute auf sie auf die Ziffern der Armbanduhr.
„Nicht mehr viel Zeit, nicht mehr viel Zeit, mein Lieber. Du wartest doch schon! Bald … Gleich … “, murmelte Margarethe.
Bevor sie den letzten Rest aus dem Glas leerte, zog sie die dicken Wollsocken aus und legte die bloßen Füße auf den seit langer Zeit ungenutzten zweiten Balkonstuhl. Mit einem tiefen Schluck direkt aus der Weinflasche spülte sie einige Tabletten gegen Seekrankheit herunter. Sie würden bei aufkommender Übelkeit helfen und ihr die Reise ins Jenseits erleichtern.

Margarethe hatte an alles gedacht.

Wärmender Alkohol breitete sich wohltuend in ihrem Magen aus, umhüllte sie, erreichte ihre Gedanken. Sanft entrückt und entspannt lächelte die alte Frau dem aufgehenden Mond zu. Es würde bald Neumond sein.
Verzückt hörte sie den letzten Tonfolgen der Musik zu, schloss lächelnd die Augen, faltete ihre kleinen, dürren Händchen über dem luftigen Baumwollkleid und schlief traumlos hinüber in die Sternen klare, frostige Nacht.
Die bunten Lämpchen schaukelten sanft im Wind und in der Ferne heulte noch lange ein einsamer Hund.

© Elke Kemna

Donnerstag, 3. Januar 2008

Hannahs Forum

Gluggernd, mit einem saugenden Geräusch verschwanden die letzten Reste des rosmarinparfümierten Wassers im Badewannenabfluss. Kleine Schaumbläschen zerplatzten durch den Druck.

Hannah hatte es eilig. Kaum nahm sie sich Zeit, die vom Überwärmungsbad schwitznassen eisgrauen Haare mit einem verblichenen Frotteetuch zu umwickeln und den längst zu knapp gewordenen Bademantel über ihrem fülligen alten Körper zusammenzuraffen.
Sie schlurfte mit den vom Baden verschrumpelten Füßen über abgewetztes Parkett über den Flur ins Wohnzimmer. Endlich fühlte sie sich erfrischt, der Kopf war wieder frei, zäher Schnupfen und kaum auszuhaltender Druck im Schläfenbereich hatten sich gemildert.

Die tief stehende Novembersonne blendete grell durch undurchsichtig verschmutzte Fensterscheiben auf ein graues, zerschlissenes Sofa, zwei alte Kiefernstühle mit abgewetzten Polstern und einen wunderschönen handgearbeiteten Teakholz-Tisch mit verstaubter Glasplatte. Er war mit Büchern, Zeitungen, Prospekten und handgeschriebenen Zetteln beladen.
Nur eine rotbraun gebeizte Wurzelholz-Vitrine stach aus dem angeschmuddelten Chaos heraus. Wunderschöne weinrote Überfangrömer, kleine Likörgläschen und mundgeblasene zarte Sektkelche funkelten im Sonnenlicht - übersichtlich angeordnet und liebevoll geputzt.

Gegenüber, an der Stirnseite des Raumes gab es noch eine Besonderheit: Hannahs Schreibtisch, ein kleines Sperrholzmöbel mit einem dreh- und rollbaren Bürostuhl, wärmend mit verfilztem Schaffell überzogen. Kein Stäubchen, kein Stift, weder Zettel noch sonstige Utensilien, die sich normalerweise auf Schreibtischen befinden, war zu sehen. Nur ein Notebook. Aufgeklappt wechselte der Bildschirm bunte Motive vor sich hin. Das Gerät war Hannahs Lebenselixier, ihre Daseinsberechtigung, Kummerkasten und Freund: Immer im Einsatz, immer online. Auch des Nachts eingeschaltet, damit sie das heiß ersehnte „Sie haben Post“ aus Traum und Schlaf heraus verfolgen konnte.

Die alte Frau wuchtete ihren schweren Körper auf den durchgesessenen Drehstuhl und tippte auf das Touchpad. Der Bildschirmschoner wechselte zu einer, mit vielen Menüs bedeckten gelben Darstellung: Hannahs Forum! Dort war sie seit nunmehr drei Jahren ein fast immer präsentes Mitglied. Durch Zufall auf die Seite geraten, hatte sie sich als eine der Ersten dort angemeldet und registrieren lassen. Gründer und auch Administrator des Forums war eine andere alte, ihr unbekannte Frau. Mit den Jahren war das „Lebens-Forum“ auf nahezu fünfzig Mitglieder angewachsen. Die Gemeinschaft wuchs zusammen. Man tauschte sich aus, hatte Ratschläge und Tipps füreinander, schrieb sich gegenseitig wichtige Passagen aus interessanten Büchern, schob Zitate bedeutender Menschen ein, beantworte Lebens- und Glaubensfragen und tröstete sich gegenseitig bei Schicksalsschlägen ...
Hannahs frühere Einsamkeit, ohne Freunde und Verwandte, die längst verstorben oder in Altersheimen vor sich hin vegetierten, war endlich vorbei; rotweinschwere öde Weihnachtsfeiertage, langweilige Fernsehabende und öde Spaziergänge vergessen. Das „Lebens-Forum“ war ihr neues Zuhause, Hannahs bunte virtuelle Welt!

Die Mitglieder des Forums bauten ihre angeschlagene, vereinsamte Persönlichkeit nach und nach auf. Sie beantwortete dies mit immer selbstbewussteren Ratschlägen und Proben ihres schriftstellerischen Könnens. Mit der Zeit wurde sie zum Mittelpunkt der Plattform: Ihre eingestellten Gedichte wurden gelobt, jeder wollte seine Werke von ihr kommentiert und verbessert wissen und an Feiertagen hatte sie schon früh morgens Post in ihrem virtuellen Forums-Briefkasten. Täglich bekam sie Grüße und kleine aufmerksame Zeilen zugesandt. Unbekannte Menschen, meist ein bis zwei Generationen jünger als die Vierundachzigjährige, schrieben in Beiträgen, welch wichtiger Stellenwert Hannahs Engagement hatte und wie viel Hilfe sie geben konnte.

Hannahs Leben war glücklich.

Die verhassten, nur der körperlichen Fitness dienenden Ausflüge, Schaufensterbummel, Besuche im Altenzentrum zu den ewig gleichen samariterischen Kaffeetafeln, noch vor Jahren geliebte Zoobesuche - all das war nun nicht mehr wichtig. Hastig erledigte sie des Morgens ihre Einkäufe und nur selten konnte sie sich durchringen, Staub zu saugen, das Bad zu wischen oder aufzuräumen. Es gab jetzt „Essen auf Rädern“ und andere Fertigprodukte. Wochenlang benutzte sie dieselbe Tasse, den mit angetrockneten Essensresten bedeckte Teller. Dafür verbrachte sie nun Tag und Nacht jede freie Minute, nur durch kurze wild träumende Schlafpausen unterbrochen, mit einem alten Bademantel bekleidet vor ihrem Notebook, in „ihrem“ Forum. Nur das mittägliche heiße Bad bildete einen weiteren Fixpunkt in ihrem Leben. Danach fühlte sie sich lebendig, frisch und wach, um wieder bis tief in die Nacht hinein mit unbekannt-vertrauten Menschen zu plaudern.

So auch heute. Sie scrollte die Rubriken runter, wieder rauf. Ungläubig. Niemand hatte etwas Neues geschrieben. Keine Antwort auf ihr gestriges Thema „Winterreigen“. Hannah war entsetzt und verwundert.
War ihr Online-Anschlus, ihr Draht zur Welt, gestört?
Nein! Die blinkenden bunten Reklameblocks waren ja aktiv!
Dann bemerkte sie das blinkende Briefkastensymbol. Es leuchtete rot. Post für sie! Ein Glück! Mit zitternder Hand klickte sie auf den virtuellen Briefumschlag und eine kurze, in dicken blauen Buchstaben geschriebene Mitteilung öffnete sich:

„Liebe Frau Hannah!
Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass meine Mutter gestern Abend einem Hirnschlag erlegen ist. Heute Morgen habe ich ihren Posteingang kontrolliert, den Computer durchsucht und anhand ihrer Notizen und Passwörter nach Hinweisen auf Freunde und Bekannte durchstöbert. Dabei habe ich Folgendes entdeckt: In den letzten Jahren, seit sie nach ihrem ersten Schlaganfall an einen Rollstuhl gefesselt war, hat meine Mutter das Lebens-Forum aufgebaut. Dort hat sie sich mit unterschiedlichen Nicknamen angemeldet und im Namen mehrerer Personen gepostet. Wie ich feststellte, sind Sie, liebe Frau Hannah das einzige echte Mitglied, das außer meiner Mutter dort zugegen war.

Ich werde dieses Forum nun löschen und hoffe, dass Sie in den Weiten des Netzes neue Kontakte finden, anstatt einer aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetzten Person auf den Leim zu gehen.

Mit allerbester Hochachtung!

Ihre Liselotte K.“


Zwielicht schluckte das Licht im Wohnzimmer. Es war später Nachmittag. Stunde um Stunde hatte Hannah blicklos vor dem Bilder wechselnden Laptop gesessen.

Endlich stand sie vom Stuhl auf, klappte den Computer zu und zog den Stecker. Das lange Sitzen hatte sie ausgekühlt. Mühsam schlurfend, das Gerät unter den Arm geklemmt, ging sie über den Flur ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen.

Sie stöpselte das Gerät an die Steckdose, schaltete es ein, und stieg mit ihm in das wohl duftende Schaummeer.

Gemeinsam tauchten sie unter.

Vorbei …

Zeitungsnotiz vom 3. Januar 1998:
Gestern Morgen wurde unter schwierigen Umständen die Leiche der 84-jährigen Hannah P. aus dem Stadtteil Gevenbrück geborgen.
Da die alte Dame trotz mehrmaliger schriftlicher Aufforderungen jeden vorgeschlagenen Termin des Heizkosten-Ablesers ignoriert hatte, öffnete schließlich der Hausmeister der GDV-Wohnanlage mit einem Nachschlüssel die Wohnungstür und machte eine grausige Entdeckung. Er fand die Leiche der alten Frau mit einem Laptop in der Badewanne.
Die hinzugezogene Kriminalpolizei nimmt an, dass Hannah P. das Gerät in der Wanne aus den Händen unter Wasser rutschte und einen Stromschlag verursachte.

Das Ableben wird auf Mitte bis Ende November geschätzt, Fremdverschulden schließt man aus. Auch ein Freitod schien nicht beabsichtigt gewesen zu sein, da man in der Wohnung keinen Abschiedsbrief fand.

© Elke Kemna
Veröffentlicht in
Gedankenkunst - Band 2 – art of mind
Verlag:
Art of Arts, Forchcheim, ISBN 3-9810547-6-8