Freitag, 2. Mai 2008

Insel der verlorenen Seelen

(c) Elke Kemna



Tag 1
Heute beginne ich mit den Aufzeichnungen.
Die Flut hat eine der vielen Kisten an Land gebracht.
Welcher Schatz! In einer Kupferschatulle befanden sich Schreibzeug, in Öltuch eingewickeltes Papier und das Bordbuch. Der letzte Eintrag vom Kapitän war vom 13. April 1894.
Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Vielleicht zwei Wochen, vielleicht mehr? Ich weiß es nicht.
Niemand hat den Sturm überlebt. Sie sind alle von Bord gespült worden oder festgebunden an den Masten, elendig ersoffen, als das Schiff kieloben am Korallenriff strandete. Nur der Hund hatte mit mir schwimmend das rettende Eiland erreicht.
Smurre! Mein treuer Begleiter.

Tag 2
Ich bin mehrmals zum Wrack geschwommen. Es droht auseinander zu brechen. Als ich zur Kombüse hinab tauchte, entdeckte ich den Smutje. Festgezurrt schaukelte seine Leiche sanft, als würde er sich immer noch zum Gesang der Matrosen wiegen. Armer Kerl.
Ich nahm nur ein Messer und den kupfernen Kessel mit. Luftnot trieb mich wieder nach oben.
Das Schiff schrie und stöhnte in den wütenden Wellen. Noch ein paar Mal tauchte ich zu den Kojen im Vorderdeck hinab, holte allerlei Nützliches und schwamm mehrmals mit meinen Schätzen zurück zur Insel und wieder zum Schiff.
Es wird bald dunkel. Meine Wunden brennen fürchterlich. Dieses verfluchte Salzwasser. Ich muss mir wohl ein paar Tage Pause gönnen.

Tag 3
Smurre brachte mir heute Morgen einen toten Affen. Hechelnd stand der Hund vor mir. Wir wussten beide nichts mit dem Gesellen anzufangen. Also schmiss ich ihn ins Meer.
Das Schiff ist weg! Es musste in der Nacht auseinander gebrochen und gesunken sein.
Vorher hatte es noch Sören und den Smutje freigegeben. Sie trieben im seichten Wasser der Lagune. Ich habe sie abseits am Strand begraben.

Tag 6
Mein Hunger nach Fleisch ist unbeschreiblich. Auf der Insel gibt es genug Früchte, um meinen Durst zu stillen. Aber sie machen immer mehr Appetit auf Gebratenes. Smurre bringt oft tote, graue Fellwesen mit riesigen blanken Augen. Sie haben buschige, schwarz-grau gestreifte Schwänze. Ob man sie essen kann? Der Hund jedenfalls scheint satt zu sein. Manchmal höre ich ihn von irgendwoher kläffen. Später dann streckt er sich hechelnd und glücklich zu meinen Füßen.

Tag 12
Die letzten Tage war ich fiebrig und zu schwach zum Schreiben. Durchfall plagte mich und ich musste mich tagelang erbrechen.
Der Regen hat endlich aufgehört. Seit Wochen sehe ich zum ersten Mal einen Sonnenuntergang. Morgen werde ich mit Smurre noch weiter ins Inselinnere vordringen. Es muss irgendwo eine Quelle geben, denn der Hund trinkt nie von dem aufgefangenen Regenwasser.

Tag 14
Gestern haben wir einen kleinen See gefunden. Ich badete zum ersten Mal seit Monaten. Herrlich. Smurre bellte aufgeregt am Rand. Ihm war das Wasser unheimlich. Dabei war es viel schöner als das Salzwasser, in dem er sonst tobte. Später entdeckte ich einen riesigen Baum, unter dem rote, glitschige Früchte mit pelziger Schale lagen. Vorsichtig probierte ich ein paar von ihnen. Das Fruchtfleisch schmeckte sauer vergoren. Aber es geht mir immer noch gut.

Tag 209
Viele meiner Aufzeichnungen sind zerstört. In der letzten Nacht herrschte ein fürchterliches Gewitter. Ein Blitz schlug in den Baum neben meiner Behausung ein. Ich konnte nur wenig retten, bevor meine mühsam gebaute Hütte nieder brannte. Leider sind viele Aufzeichnungen und das Bordbuch vernichtet worden. Hätte ich sie doch blos in die Schatulle eingeschlossen. Aber ich habe glühende Holzstücke geborgen und sitze jetzt hier an knisterndem Feuer. Morgen werden Smurre und ich Affen jagen gehen. Keine rohen, glitschigen Fische mehr. Endlich Fleisch!

Tag 211
Der Affe schmeckte widerlich. Auch der Hund mochte ihn nicht. Er jagt weiterhin Felltiere und verzehrt sie mit Genuss. Ich habe heute wieder in der Lagune Fische mit einem angespitzten Ast gefangen und gebraten. Köstlich. Sie schmecken um Vieles besser als das rohe, lauwarme Fischfleisch, von dem ich mich bisher ernährte. Ich spreche viel mit Smurre und singe ihm Lieder vor. Jetzt verstecke ich mein Geschriebenes abends immer, sicher in Ölpapier eingepackt, außerhalb der Hütte in einer Kupferschatulle.

Tag 228
Ich muss sparsamer mit dem Papier umgehen. Ich beschreibe schon die Rückseiten. Meine neue Hütte ist fast fertig. Abgebrochene Äste gibt es im Inselinneren genug. Dazwischen flechte ich riesige Blätter und belaubte Zweige. Ich habe einen Vorrat der roten Früchte angelegt. Wenn sie ein paar Tage in der Sonne liegen, wirkt ihr Genuss, fast wie mit Wasser verdünnter Rum. Manchmal werde ich aber auch unendlich traurig und einsam.
Jeden Tag gehe ich zum Meer. Vielleicht fährt irgendwann ein Schiff vorbei? Ich schreibe jetzt nur noch, wenn etwas Wichtiges passiert.

Tag 321
Heute habe ich die Insel umrundet und Smurre gesucht. Vorgestern Nacht hörte ich ihn irgendwo verschreckt jaulen und kläffen. Er ist bis jetzt nicht wieder gekommen.
Ich bin verzweifelt. Mit wem soll ich mich jetzt unterhalten?

Tag 329
Smurre ist tot. Ich habe seinen verwesenden Körper gefunden. Riese Schmeißfliegen wiesen mir den Weg. Er lag, kaum zwanzig Meter von meiner Behausung entfernt, im Dickicht. Armer Smurre. Was war nur mit ihm geschehen? Ich begrub ihn dort, wo ich ihn fand. So bleibt er wenigstens in meiner Nähe.

Tag 337
Ich werde langsam verrückt. Seit ein paar Tagen rede ich nicht nur mit mir, sondern antworte mir anscheinend auch, ohne dass ich merke, dass ich es bin. Eine meiner Stimmen scheint sich zu verändern. Heute Morgen fragte sie mich gebrochen Dänisch, ob ich Tee trinken wolle. Die Stimme nennt sich Sören. Ich schimpfte, dass es hier keinen Tee gäbe. Kurz darauf fand ich den Kupferkessel mit brodelndem Teichwasser, in dem grüne Teeblätter schwammen, auf dem Feuer. Wie mag der dorthin gekommen sein?
Sören? Irgendwo her kenne ich den Namen. Ich habe es vergessen.

Tag 352
Sören ist jetzt immer hier. Manchmal sehe ich ihn auch. Aber meist versteckt er sich hinter der Hütte. Ich weiß nicht, woher er kommt. Als ich ihn fragte, drohte er weg zu gehen und nie wieder zu kommen. Also schweige ich und finde es schön, abends am Feuer zu sitzen und mit ihm alte Kinderlieder zu singen.

Tag 360
Vorhin sah ich einen dunklen Fleck weit draußen auf dem Meer. Er bewegte sich nicht und blieb konstant bis zum Einbruch der Dämmerung an derselben Stelle. Es muss ein Schiff sein. Wahrscheinlich liegt es dort vor Anker. Wenn es morgen noch da ist, werde ich hinüber schwimmen. Sollte ich ertrinken, wäre das immer noch besser, als hier zu sterben.

Tag 362
Das Schiff am Horizont ist verschwunden. Ich habe schrecklich geweint als ich in der Bucht war. Sören hat mich getröstet und mir versprochen, jetzt immer sichtbar zu bleiben. Er ist so lieb. Morgen wollen wir gemeinsam im Meer schwimmen gehen. Ich habe Angst vor den hohen Wellen. Sturm zieht auf. Aber er lacht nur. Er wird mich schon retten, falls es gefährlich wird, meint er. Und er will noch einmal mit mir zu dem versunkenen Wrack tauchen. Es liegt tief unten im Korallenriff.. Wir müssen unsere Körper beschweren um hinunter zu kommen, meint er. Er hat recht. Dann könnten wir es schaffen.


„Hey, hierher! Los, Kinder, kommt hierher! Ich hab was entdeckt! Lisa! Michael!“
Lisa bahnte sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp.
„Was ist, Papa?“ Hast Du einen Affen gefunden?“
„Nein. Der wäre bei meinem Gebrüll längst über alle Berge. Wo ist Michael abgeblieben?“
„Der ist wieder zum Katamaran zurück geschwommen. Er hat doch Angst vor Schlangen. Das weißt Du doch. Was hast Du denn entdeckt, Papa?“
„Schau mal. Ein ganz alter Kupferkasten. Er ist völlig verfärbt. Das nennt man Grünspan. Was da wohl drin ist? Der Kasten ist ja unheimlich schwer …
Und guck mal dort hinten! Da liegt ein verbeulter Kessel. Auch ganz grün. Das Zeug muss hier schon lange vor sich hin rotten. Komisch, dass es noch nicht überwuchert ist.“
„Pappii! Ich hab Hunger! Lass uns zum Hotel zurück segeln. Schmeiß die doofen Sachen weg. Komm jetzt. Ich will von dieser blöden Insel fort!“
Lisa zerrte Herrn Müller aus dem Dickicht zum Strand. Sie sahen, wie sich ein junger, braun gebrannter Mann an einem Schwert des Katamarans festklammerte und mit Michael unterhielt. Als sie in die Nähe des Seglers kamen, drehte er sich weg und schwamm aufs Meer hinaus.
„Was wollte der denn von dir?“
„Ach, lass mich in Ruhe, neugierige Zicke! Musst Du immer alles wissen?“
„Michael, hör auf, deine Schwester zu ärgern. Sag schon, was wollte der junge Mann?
„Ach der. Der spinnt. Er heißt Sören und wohnt hier auf der Insel. Und er meint, dass wir heute Nacht hier bleiben sollen, weil ein fürchterlicher Sturm aufzieht. Wir würden es keinesfalls bis zur Nachbarinsel und unserem Hotel schaffen.“
„Das verstehe ich nicht. Der Himmel ist völlig klar und Wind haben wir auch kaum. Kommt, Kinder, helft mit und schiebt das Boot hinaus. Wir segeln zurück. Ich bin auch hungrig. Bei der leichten Brise brauchen wir mindestens drei Stunden.“

Die drei erreichten das Hotel nicht. Weder ihre Leichen noch der Katamaran wurden je gefunden.

Seit jenem Tag sehen die Urlauber von den Hotelanlagen aus, vor dem ersten großen Taifun zu Beginn der Regenzeit, eine kleine Insel weit draußen auf dem Meer auftauchen. Von den ersten, schweren Regenwolken umrahmt, ist sie weithin sichtbar. Wunderschöne Lieder klingen übers Wasser. Klar und hell singen Kinder und mehrere tiefe Männerstimmen begleiten sie. Wer sie auf See hört, dreht schnell bei, um den sicheren Hafen zu erreichen.
Kurz darauf beginnt der Sturm.

Ein paar Tage später verschwindet die Insel und wird erst ein Jahr später wieder gesehen, wenn der Monsun auf Neue beginnt
(c) Elke Kemna

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