Dienstag, 25. März 2008

Die geronnene Zeit



Weiß ...
Alles weiß -
Verschwimmt.
Kälte?
Nein …
Weiß. Gefühllos weiß.
Dunkelheit …

Weiß ...
Ein Schneesturm -
Verschüttet.
Ein Schneesturm?
Keine Kälte.
Keine Kälte – kein Schneesturm …
Dunkelheit …

Weiß …
Eine eckige grelle Sonne -
flirrend, direkt von einem weißen Himmel.
Weiß … so verflucht weiß.
Dunkelheit …

Weiß - Grau - Schatten …
Das Licht bewegt sich.
Hell - Dunkel - Hell - Dunkel …
Keine Hände. Keine Füße. Kein Körper …
Dunkelheit …

Zischen - Piepen - Pochen …
Ich kann hören … ich bin.
Ich?
Dunkelheit…

Weiß …
Herzschlag?
Ich habe keinen Körper. Ich habe kein Herz …
Ich denke … ich bin.
Ich?
Schatten ... Geräusche …
Schmerz?
Kein Schmerz. Kein Gefühl.
Gefühl? - Ein Wort.
Ich denke ein Wort. Ich bin.
Wer bin ich? Wo bin ich?
Mein Körper …?
Dunkelheit …

Weiß … milchiges, cremiges Weiß.
Die Sonne scheint wieder, reglose Fliegen auf ihrem quadratischen Planeten fixierend.
Meine Augen rollen weg, haltlos, unbezwingbar …
Ich kann sehen.
Das Pochen, Zischen und Piepen ist noch da.
Immer?
Zu jeder Zeit?
Zu jeder Zeit.
Zeit - Was ist Zeit?
Weiß – Dunkelheit – Weiß – Dunkelheit … Ist das Zeit?
Dunkelheit …

Gelb … helles, blendendes Gelb …
Meine Augen bleiben starr, fixiert von diesem gegenstandslosen Gelb.
Stimmen … leise Stimmen … viele Stimmen …
Piepen - Zischen - Pochen …
Dunkelheit …

Schatten … Licht … Dunkelheit … Stimmen … Geräusche …
Licht.
Keine Hände, keine Beine, kein Körper …
Sehen … hören … denken …
Wo bin ich? Wer bin ich? Wo ist mein Körper?
Kein Gefühl …
Grelles Licht.
Stimmen … Worte …
Schnelles Piepen. Lautes Pochen. Gefährliches Zischen.
Gefahr!
Ich hab Angst ...

„Wir müssen ihn anders lagern. Sein Puls rast.“
„Warte. Ich hol den Arzt. Der Blutdruck fällt. Scheiße. Und das zum Feierabend.“
„Lass doch. Der merkt eh’ nix mehr.“
„Wieso?“
„Seit drei Wochen kriegt der jeden zweiten Tag ein EEG. Minimale Gehirnströme. Da ändert sich nichts. Der ist hin.“
„Warum liegt er dann noch hier?“
„Im Keller ist nichts frei.“
„Doch!“
„Nee. Hab gestern einen runter gefahren. Die sind total überfüllt. Da geht gar nichts mehr. Kriegste kaum die Tür auf!“
„Stimmt nicht. Die Nutte ist tot. Heute morgen verstorben. Der Pfleger hat sie vorhin ins Kühlhaus gebracht.“
„Ach so? Hab ich nicht mitbekommen. Echt? Die ist tot? War doch eigentlich ganz stabil.“
„Infektion an der Magensonde. Die da unten haben geschlampt. Wohl nicht richtig desinfiziert. Oder was weiß ich. Nun ist sie hin.“
„Dumm gelaufen. Die war eigentlich gut in Schuss. Ziemlich fitt, bis auf den zermatschten Kopf. Von ihr hätte man viele Organe nehmen können.“
„Hilf mal! Wir drehen ihn um“
„Bei drei. Eins! Zwei …! Drei!“
„ Scheiße. Wie kann man nur so fett sein. Ich kann ihn kaum heben! “
„Von nix kommt nix. Das hat er nun davon.“
„Nee. Meinste wirklich?“
„Klar. Hirnschlag durch Überfettung.“
„Ich spritz ihm versuchsweise Valium. Zehn Milligramm. Schaden kann’s nicht. Vielleicht kriegt er sich wieder ein.“
„Mach hinne! Ich will endlich rauchen gehn.“

Dunkelheit …
Piepen - Zischen - Pochen …
Weiß - Eckiges Weiß ...
Keine Sonne - Eine Lampe. Eine Lampe mit Fliegenleichen, gefangen unter milchiger Glashaut.
Ein Raum. Ein weißer Raum. Ein Fenster. Ein schwarzes Fenster.
Draußen Dunkelheit …
Draußen? Drinnen?
Wo bin ich?
Ich höre Stimmen.
Sie kommen näher.
Noch näher …
Meine Augen gehorchen mir wieder. Ich kann ihnen meinen Willen aufzwingen.
Eine Tür geht auf. Eine weiße Tür in einem weißem Rahmen in einem weißen Raum.
Zwei blau gekleidete Menschen. Frauen.
Sie kommen herein. Farbe. Endlich eine andere Farbe.
Sie reden miteinander. Eine der Beiden kratzt sich am Kopf. Ihr sorgsam zurückgesteckter blonder Zopf wackelt. Sie lacht laut. Ihre dickliche Figur sprengt fast die Knöpfe ihres Kittels. Das Schild an der Brusttasche hüpft.
Schwarze Muster auf dem Schild. Ich kann nicht lesen. Aber ich sehe jetzt alles deutlich. Ich kann hören. Ich kann denken …
Werden sie mir helfen?
„Fahren wir ihn noch mal zum EEG?“
Die andere Schwester, klein, zierlich, mit magerem mausgrauen Gesicht schüttelt den Kopf:
„Nein, zu teuer. Warum auch? Der kommt doch sowieso in den Keller. Ich hole nachher den Berechtigungsschein. Und dann ab mit ihm.“
Die Zwei gehen zum Fenster und schauen hinaus. Meine Augen können ihnen folgen. Ich muss mich nur konzentrieren. Wahnsinnig konzentrieren. Kein Gefühl in mir. Wo ist mein verdammter Körper? Aber ich kann jetzt meine Blicke steuern ...
Lass es nicht wieder dunkel werden. Lieber Gott! Mach, dass es hell bleibt.
Ich habe Angst. Grässliche Angst. Ich bin gefangen.
Ich kann mich nicht erinnern. An nichts mehr ...
Ich bin müde. So müde.
Dunkelheit …

Licht. Gelbes Licht. Gleißend. Gegenstandslos. Meine Augen füllen sich damit, leiten es weiter in meinen Kopf, in mein Gehirn.
Alles gelb, grelles gelb … Sonst nichts.
Stimmen - Helle Stimmen - Eine tiefe Stimme.
Sie sprechen über mich. Sie werden mir helfen. Ich kann denken und sehen und hören. Ich lebe. Aber wer bin ich?
„ Schwester Daniela? Warum soll der nach unten? Seine Pupillen zeigen Reaktionen. Der wird wieder. Den bekommen wir durch. Wir sollten ihn auf die Reha verlegen. Schnellstmöglich.“
Das Gelb ist wieder weg. Nur noch Schatten … Keine richtige Dunkelheit. Verschwommene, bewegte Schatten. Sie formen sich, werden zu Menschen. Ich muss mich konzentrieren. Ich will nicht in die Dunkelheit zurück.
Ein weiß gekleideter hochgewachsener Mann geht vor meinem Bett auf und ab. Meine Augen folgen ihm mühsam. Er steckt einen kleinen metallenen Stift mit leuchtender Spitze in seine Brusttasche.
Eine Lampe. Aha! Das war das gelbe Licht in meinem Gehirn.
Jetzt bleibt der Mann stehen. Ein Arzt. Ich bin in einem Krankenhaus. Aber warum? Was ist passiert?
Er steht nun neben den beiden blau gekleideten Frauen. Jetzt kommt noch ein weiß bekittelter sehr kleiner Mann mit Halbglatze ins Zimmer.
Habe ich noch Haare? Wie sehe ich aus? - Ich weiß nicht. Ich erinnere mich nicht ...
Der dicke Mann begrüßt wortlos nickend die anderen und kommt auf mich zu. Er blickt auf die rot, gelb, grün blinkenden Apparate neben mir. So schöne Farben. Warum sehe ich sie erst jetzt? Die Welt ist ja bunt. So bunt!

Piepen - Zischen - Pochen ...
Piepen - Zischen ...
Stille.
Ich kann wieder richtig hören.

„Bringt ihn runter. Ich habe die Genehmigung bekommen“, sagt der kleine Dicke.
„Nein! Nicht abschalten! Er bewegt die Augen. Die Pupillen ziehen sich bei Licht zusammen. Er reagiert!“, die mausgraue Schwester schüttelt energisch den Kopf.
„Wir therapieren ihn aus. Basta. Der wird zu teuer. Guckt euch den Klops an. Den kriegen wir nicht mehr hin. Alles verkalkt. Verfettetes Herz, kaputte Nieren, Leber im Arsch … Er kommt in den Keller. Daniela, Anne, nehmt den Leichenfahrstuhl. Es ist Besuchszeit. Da möchte ich den nicht öffentlich rumkarren lassen.“
Der andere Arzt nähert sich noch einmal meinem Bett. Fasst auf die Decke. Drückt irgendwo in die Mitte meines Körpers. Mehrmals. Ich spüre nichts. Ich habe keinen Körper …
„Mann, der ist vielleicht dick. So was habe ich noch nicht gesehen. Kein Wunder!“, der große schlanke Arzt blickt mir, während er spricht, direkt in die Augen.
Ganz tief. Mitten rein. Gerade. Fast hypnotisierend.
Er hat grüne Augen, mit kleinen braunen Pünktchen darin. Dann verschwindet er aus meinem Blickfeld.

Die Ärzte verlassen den Raum. Laut knallt die Tür hinter ihnen zu. Ich will rufen. Hinterher schreien. Sie aufhalten.
Ich habe keine Stimme. Keine Sprache. Ich kann nicht reden ...
„Stöpsel ihn ab, Anne. Vorsicht! Achte auf seine Haut am Tropfzugang. Desinfiziere den Zugang noch mal. Er wird im Keller wieder angeschlossen.“
„Deer? Warum das denn?“
Die kleine dunkelhaarige Schwester guckt zu mir, dann zu ihrer Kollegin. „Wird der etwa noch gebraucht? Ich fass’ es nicht. Was kann man denn von dem fetten Kerl noch verwenden?“
Die andere, von der ich jetzt weiß, dass sie Daniela heißt, kichert:
„Na klar. Die Augen …! Die Augen kannste immer brauchen. Bei der ollen Merseburger auf der Vierzehn hatte der Laser nicht richtig funktioniert. Ihre Netzhaut löst sich wieder ab. Die OP muss dringend wiederholt werden, sowie sie einen Spender haben. Da passt das doch prima mit ihm. Er muss nur noch ein paar Tage durchhalten. Mensch, wird sich die Merseburger freun!“
„Ich spritz ihm wieder Valium. Dann wird er schön schlaff, kann ich besser die Schläuche ziehen.“

Ich bin wieder wach ...
Ich sehe - Ich fühle - Ich bin stumm …
Milchig gelbe runde Kuppellampen erhellen sparsam den riesigen Raum.
An den Wänden reflektieren blinkende Lämpchen in übereinander gestapelten Geräten. Rote, grüne, gelbe. Auf Monitoren tanzen weiße Wellen, Zacken und Punkte. Virtuelle Sturmfluten. Vielfaches Zischen, Pochen, Klopfen und Piepen erfüllt mehrstimmig das Gewölbe. Wie ein Kanon. Jedes Geräusch kennt genau seinen Einsatz. Keiner der Apparate gerät aus dem Takt oder ändert das Tempo. Absolut rhythmisch.
Neben jeder dieser Maschinen steht ein Bett. Menschen liegen darin. Kaum erkennbar, nur Schemen. Angeleuchtet von matt gedimmtem Licht.
Wo bin ich?
Eine blau oder grau gekleidete Gestalt schleicht lautlos zwischen den Maschinen hin und her. Dreht hier an einem Rädchen, drückt dort einen Knopf, kippt einen Schalter. Leises Klacken. Metallenes Klicken.
Die Tür geht auf. Gleißendes Licht beleuchtet grausam die unbeweglichen, verhüllten Leiber.
Eine im Gegenlicht schwarz erscheinende Gestalt nähert sich meinem Bett. Winkt den Kittelmenschen heran. Dann stehen sie beide an meinem Fußende. Der gerade hereingekommene, nun von den Deckenlampen angeleuchtete Mann bekommt eine Kontur, ein Gesicht. Es ist der hochgewachsene Arzt von gestern.
Gestern …?
Ich weiß nicht - war es gestern?

Er zeigt auf mich, gibt dem Graukittel einen Zettel. Dann geht er zu einem Schrank und zieht eine Spritze auf. Er gibt sie dem Pfleger.
„Der ist jetzt dran. Bereiten Sie ihn vor und fahren ihn gleich hoch. Um Elf ist die Netzhaut-OP auf der Vierzehn. Nicht vergessen, Eisbeutel auf seine Augen legen.“

„Nein! Mein Gott, nein! Hilf mir! Gib mir eine Stimme!
Lass mich schreien …“

© Elke Kemna

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