Donnerstag, 3. Januar 2008

Hannahs Forum

Gluggernd, mit einem saugenden Geräusch verschwanden die letzten Reste des rosmarinparfümierten Wassers im Badewannenabfluss. Kleine Schaumbläschen zerplatzten durch den Druck.

Hannah hatte es eilig. Kaum nahm sie sich Zeit, die vom Überwärmungsbad schwitznassen eisgrauen Haare mit einem verblichenen Frotteetuch zu umwickeln und den längst zu knapp gewordenen Bademantel über ihrem fülligen alten Körper zusammenzuraffen.
Sie schlurfte mit den vom Baden verschrumpelten Füßen über abgewetztes Parkett über den Flur ins Wohnzimmer. Endlich fühlte sie sich erfrischt, der Kopf war wieder frei, zäher Schnupfen und kaum auszuhaltender Druck im Schläfenbereich hatten sich gemildert.

Die tief stehende Novembersonne blendete grell durch undurchsichtig verschmutzte Fensterscheiben auf ein graues, zerschlissenes Sofa, zwei alte Kiefernstühle mit abgewetzten Polstern und einen wunderschönen handgearbeiteten Teakholz-Tisch mit verstaubter Glasplatte. Er war mit Büchern, Zeitungen, Prospekten und handgeschriebenen Zetteln beladen.
Nur eine rotbraun gebeizte Wurzelholz-Vitrine stach aus dem angeschmuddelten Chaos heraus. Wunderschöne weinrote Überfangrömer, kleine Likörgläschen und mundgeblasene zarte Sektkelche funkelten im Sonnenlicht - übersichtlich angeordnet und liebevoll geputzt.

Gegenüber, an der Stirnseite des Raumes gab es noch eine Besonderheit: Hannahs Schreibtisch, ein kleines Sperrholzmöbel mit einem dreh- und rollbaren Bürostuhl, wärmend mit verfilztem Schaffell überzogen. Kein Stäubchen, kein Stift, weder Zettel noch sonstige Utensilien, die sich normalerweise auf Schreibtischen befinden, war zu sehen. Nur ein Notebook. Aufgeklappt wechselte der Bildschirm bunte Motive vor sich hin. Das Gerät war Hannahs Lebenselixier, ihre Daseinsberechtigung, Kummerkasten und Freund: Immer im Einsatz, immer online. Auch des Nachts eingeschaltet, damit sie das heiß ersehnte „Sie haben Post“ aus Traum und Schlaf heraus verfolgen konnte.

Die alte Frau wuchtete ihren schweren Körper auf den durchgesessenen Drehstuhl und tippte auf das Touchpad. Der Bildschirmschoner wechselte zu einer, mit vielen Menüs bedeckten gelben Darstellung: Hannahs Forum! Dort war sie seit nunmehr drei Jahren ein fast immer präsentes Mitglied. Durch Zufall auf die Seite geraten, hatte sie sich als eine der Ersten dort angemeldet und registrieren lassen. Gründer und auch Administrator des Forums war eine andere alte, ihr unbekannte Frau. Mit den Jahren war das „Lebens-Forum“ auf nahezu fünfzig Mitglieder angewachsen. Die Gemeinschaft wuchs zusammen. Man tauschte sich aus, hatte Ratschläge und Tipps füreinander, schrieb sich gegenseitig wichtige Passagen aus interessanten Büchern, schob Zitate bedeutender Menschen ein, beantworte Lebens- und Glaubensfragen und tröstete sich gegenseitig bei Schicksalsschlägen ...
Hannahs frühere Einsamkeit, ohne Freunde und Verwandte, die längst verstorben oder in Altersheimen vor sich hin vegetierten, war endlich vorbei; rotweinschwere öde Weihnachtsfeiertage, langweilige Fernsehabende und öde Spaziergänge vergessen. Das „Lebens-Forum“ war ihr neues Zuhause, Hannahs bunte virtuelle Welt!

Die Mitglieder des Forums bauten ihre angeschlagene, vereinsamte Persönlichkeit nach und nach auf. Sie beantwortete dies mit immer selbstbewussteren Ratschlägen und Proben ihres schriftstellerischen Könnens. Mit der Zeit wurde sie zum Mittelpunkt der Plattform: Ihre eingestellten Gedichte wurden gelobt, jeder wollte seine Werke von ihr kommentiert und verbessert wissen und an Feiertagen hatte sie schon früh morgens Post in ihrem virtuellen Forums-Briefkasten. Täglich bekam sie Grüße und kleine aufmerksame Zeilen zugesandt. Unbekannte Menschen, meist ein bis zwei Generationen jünger als die Vierundachzigjährige, schrieben in Beiträgen, welch wichtiger Stellenwert Hannahs Engagement hatte und wie viel Hilfe sie geben konnte.

Hannahs Leben war glücklich.

Die verhassten, nur der körperlichen Fitness dienenden Ausflüge, Schaufensterbummel, Besuche im Altenzentrum zu den ewig gleichen samariterischen Kaffeetafeln, noch vor Jahren geliebte Zoobesuche - all das war nun nicht mehr wichtig. Hastig erledigte sie des Morgens ihre Einkäufe und nur selten konnte sie sich durchringen, Staub zu saugen, das Bad zu wischen oder aufzuräumen. Es gab jetzt „Essen auf Rädern“ und andere Fertigprodukte. Wochenlang benutzte sie dieselbe Tasse, den mit angetrockneten Essensresten bedeckte Teller. Dafür verbrachte sie nun Tag und Nacht jede freie Minute, nur durch kurze wild träumende Schlafpausen unterbrochen, mit einem alten Bademantel bekleidet vor ihrem Notebook, in „ihrem“ Forum. Nur das mittägliche heiße Bad bildete einen weiteren Fixpunkt in ihrem Leben. Danach fühlte sie sich lebendig, frisch und wach, um wieder bis tief in die Nacht hinein mit unbekannt-vertrauten Menschen zu plaudern.

So auch heute. Sie scrollte die Rubriken runter, wieder rauf. Ungläubig. Niemand hatte etwas Neues geschrieben. Keine Antwort auf ihr gestriges Thema „Winterreigen“. Hannah war entsetzt und verwundert.
War ihr Online-Anschlus, ihr Draht zur Welt, gestört?
Nein! Die blinkenden bunten Reklameblocks waren ja aktiv!
Dann bemerkte sie das blinkende Briefkastensymbol. Es leuchtete rot. Post für sie! Ein Glück! Mit zitternder Hand klickte sie auf den virtuellen Briefumschlag und eine kurze, in dicken blauen Buchstaben geschriebene Mitteilung öffnete sich:

„Liebe Frau Hannah!
Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass meine Mutter gestern Abend einem Hirnschlag erlegen ist. Heute Morgen habe ich ihren Posteingang kontrolliert, den Computer durchsucht und anhand ihrer Notizen und Passwörter nach Hinweisen auf Freunde und Bekannte durchstöbert. Dabei habe ich Folgendes entdeckt: In den letzten Jahren, seit sie nach ihrem ersten Schlaganfall an einen Rollstuhl gefesselt war, hat meine Mutter das Lebens-Forum aufgebaut. Dort hat sie sich mit unterschiedlichen Nicknamen angemeldet und im Namen mehrerer Personen gepostet. Wie ich feststellte, sind Sie, liebe Frau Hannah das einzige echte Mitglied, das außer meiner Mutter dort zugegen war.

Ich werde dieses Forum nun löschen und hoffe, dass Sie in den Weiten des Netzes neue Kontakte finden, anstatt einer aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetzten Person auf den Leim zu gehen.

Mit allerbester Hochachtung!

Ihre Liselotte K.“


Zwielicht schluckte das Licht im Wohnzimmer. Es war später Nachmittag. Stunde um Stunde hatte Hannah blicklos vor dem Bilder wechselnden Laptop gesessen.

Endlich stand sie vom Stuhl auf, klappte den Computer zu und zog den Stecker. Das lange Sitzen hatte sie ausgekühlt. Mühsam schlurfend, das Gerät unter den Arm geklemmt, ging sie über den Flur ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen.

Sie stöpselte das Gerät an die Steckdose, schaltete es ein, und stieg mit ihm in das wohl duftende Schaummeer.

Gemeinsam tauchten sie unter.

Vorbei …

Zeitungsnotiz vom 3. Januar 1998:
Gestern Morgen wurde unter schwierigen Umständen die Leiche der 84-jährigen Hannah P. aus dem Stadtteil Gevenbrück geborgen.
Da die alte Dame trotz mehrmaliger schriftlicher Aufforderungen jeden vorgeschlagenen Termin des Heizkosten-Ablesers ignoriert hatte, öffnete schließlich der Hausmeister der GDV-Wohnanlage mit einem Nachschlüssel die Wohnungstür und machte eine grausige Entdeckung. Er fand die Leiche der alten Frau mit einem Laptop in der Badewanne.
Die hinzugezogene Kriminalpolizei nimmt an, dass Hannah P. das Gerät in der Wanne aus den Händen unter Wasser rutschte und einen Stromschlag verursachte.

Das Ableben wird auf Mitte bis Ende November geschätzt, Fremdverschulden schließt man aus. Auch ein Freitod schien nicht beabsichtigt gewesen zu sein, da man in der Wohnung keinen Abschiedsbrief fand.

© Elke Kemna
Veröffentlicht in
Gedankenkunst - Band 2 – art of mind
Verlag:
Art of Arts, Forchcheim, ISBN 3-9810547-6-8

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