Sonntag, 15. Juni 2008

Schlemihls Enkel

Von Weitem sah ich den Postzusteller vor meinem Haus stehen. Suchend schaute er sich um und trat dabei frierend von einem Bein aufs andere. Dann entdeckte er mich.
„Hach, Herr Krambach!“, rief er zu mir herüber, „Schön, dass ich Sie noch erwische. Ich habe ein Einschreiben für Sie!“
Er übergab mir einen braunen dicken Din A 4 - Umschlag und ließ mich auf seinem elektronischen Handheld quittieren.
„Danke sehr und ein schönes Wochenende!“
"Ihnen auch, Herr Krambach! Alles Gute. Vielleicht klappt’s ja bald mit einem Job!“
Der Zusteller war schon einige Jahre in unserem Viertel und mit meiner Arbeitslosigkeit und dem folgenden sozialen Abstieg bestens vertraut. Oft brachte er stapelweise Absagen meiner Bewerbungen. Er wusste, warum die Türklingel nicht mehr funktionierte und kannte den Grund, weshalb ich jetzt im Frühling meist tief vermummt auf sein Klopfen öffnete. Die Stadtwerke hatten vor einiger Zeit Strom und Gas abgestellt und es war nur eine Frage von Wochen, wann der Räumungsklage meines Vermieters stattgegeben wurde.
Ich schloss die Haustür auf und ging über den dunklen Flur direkt in die kleine Küche. Wenigstens hier war es hell und gemütlich, trotz der Kälte. Im Herbst hatte ich einige Zwergnarzissen- und Wildtulpenzwiebeln aus dem Vorgarten ausgegraben und in einem Blumenkasten innen vor das Küchenfenster gestellt. Gelb und rot mit sattgrünen Blättern leuchteten sie im Schein der Mittagssonne.
Ich setzte mich an den Küchentisch, las den Absender „Niedersächsisches Institut für angewandte medizinisch-technische Zell- und Organforschung e. V.“ und öffnete den Umschlag …
Natürlich! Wieder einmal bekam ich einen Ordner mit Bewerbungsunterlagen zurück.
Ziemlich schnell sogar. Erst letzte Woche hatte ich mich auf eine ganzseitige Stellenanzeige in unserer hiesigen Tageszeitung als einer der gesuchten Labor-Assistenten beworben.
Das Anschreiben allerdings klang vielversprechend, besonders die letzten Zeilen:

„ … teilen wir Ihnen mit Bedauern mit, dass alle Stellen bereits vergeben wurden.
Sollten Sie jedoch Interesse an der Mitwirkung eines aufwendigen Experimentes haben, melden Sie sich bitte am kommenden Freitag, den 16. März 2007 um fünfzehn Uhr beim Pförtner. Bei Eignung wird die Teilnahme mit einer Aufwandsentschädigung von sechzehntausend Euro dotiert …“

Meine Hände zitterten vor Aufregung. So viel Geld? Was konnten das für Versuche sein?
In Anbetracht meiner prekären Lage würde ich sogar eine Niere für diesen hohen Betrag opfern!
Oh, verflucht! Heute war der benannte Freitag. Ich hatte kaum Zeit mich umzuziehen. Schwarz fahren würde ich auch müssen, mit dem Fahrrad würde ich es kaum rechtzeitig zum vorgegebenen Termin quer durch die Stadt schaffen.

Die riesige Uhr neben der Pförtnerloge zeigte fünfzehn Uhr zwölf. Im Eingangsportal drängelten sich mindestens zwanzig Menschen verschiedenen Alters. Drei Männer in weißen Kitteln verteilten Fragebögen und Stifte. Einer der Herren kam auf mich zu. Ich zeigte ihm das Anschreiben. Er nickte und lächelte mich an.
„Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Krambach. Mein Name ist Werner, Heinz Werner. Ich bin der Leiter der Labor-Abteilung. Bei Ihnen können wir uns die Profilerstellung sparen. Wir hatten ja bereits das Vergnügen ihre Unterlagen zu studieren. Bitte kommen Sie mit“
Der Weißkittel, ein kahlköpfiger untersetzter Mann um die Fünfzig, führte mich durch gleißend hell erleuchtete Gänge kreuz und quer durch das Institut. Leise surrte eine Klimaanlage. Ab und zu begegneten wir anderen, allerdings grün bekittelte Personen, die auf eisernen Rollwagen verschiedene Geräte mit Schläuchen, Kabeln und Monitoren schoben.
Schließlich bat er mich in einen Konferenzraum. Erwartungsvoll wurden wir von einer Gruppe älterer Männer, ebenfalls weiß gekleidet, begrüßt.
Herr Werner wies mir einen Platz am Kopfende des Tisches zu und begann, mich den anderen anhand meiner kopierten Bewerbungsunterlagen vorzustellen.
Er schloss mit der Bemerkung: „Nun, meine Herren, ich denke, der Proband erfüllt alle physischen und psychischen Merkmale, um an unserem Experiment teilzunehmen. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Herrn Krambach in groben Zügen das weitere Vorgehen anhand einer virtuellen Animation erklären lassen.“
Stummes, einhelliges Nicken antworte ihm.
Werner nahm die vor ihm liegende Fernbedienung auf und drückte nacheinander ein paar Tasten. Lautlos schlossen sich die Jalousien, gleichzeitig ertönte leise, betörende Musik und eine große Leinwand am Ende des Raumes zeigte ein Getreidefeld mit Mohn und Kornblumen unter leuchtend blauem Himmel. Dann wechselte der Film zu einer unter Glas liegenden Einkaufspassage, in der viele Personen auf und ab gingen. Wieder änderte sich die Szene. Man sah einen Menschen von hinten – irgendwie war er mir ähnlich! – die Treppe zu einem mehrgeschossigen Haus hinaufgehen. Er öffnete die Tür, stieg in den Fahrstuhl und nach ein paar Filmsekunden wieder aus. Der Mann klingelte an einer Wohnungstür und wurde von einer wunderschönen Frau empfangen. Nach einer Überblendung sah man ihn kurz darauf inmitten einer Stehparty mit Musik, Getränken und vieler durcheinanderredenden Menschen. Ein Pärchen saß eng umschlungen in einer Ecke und küsste sich leidenschaftlich. Der Mann drehte sich um.
Das war ja ich! Der Mann lächelte uns zu und hob sein Sektglas.
Dann wurde die Leinwand dunkel und lautlos hoben sich die Jalousien wieder.

Herr Werner begann über das Experiment zu referieren. Eigentlich verstand ich kaum, was er in einer Mischung aus computertechnischen und medizinischen Ausdrücken erzählte. Nur soviel: Ich sollte, wenn ich einwilligte, einer der Probanden sein, um eine aufwendige Untersuchung über virtuelles Leben zu erforschen. Gleichzeitig müsste ich einwilligen, meinen Körper für die Dauer der Experimente dem Institut zur Verfügung zu stellen. Außerdem sollte ich sofort abkömmlich sein. Für alles Weitere würde gesorgt, sodass ich weder Wäsche noch sonstige Utensilien von zu Hause bräuchte. Dafür würde ich bei Beginn des Versuches die sechzehntausend Euro bekommen. Selbst wenn ich die Studie abbrach, sollte mir das Geld gehören.
Ich gebe zu, dass ich im weiteren Verlauf nicht mehr zugehört habe. Zu sehr beschäftigte mich das unbändige Glücksgefühl, mit einem Schlag aus all dem finanziellen Schlamassel rauszukommen. Mietschulden, Hunger und Kälte sollten ein Ende haben. Zudem blieb noch genug Geld übrig, um sparsam ein Jahr über die Runden zu kommen. Wenn das kein Glücksfall war!
Einer der Herren legte mir eine schriftliche Einverständniserklärung vor. Mit seinem wunderschönen schwarzgoldenen Parker-Füller unterschrieb ich ohne zu lesen. Was interessierte mich das Kleingedruckte! Das Geld gehörte auf jeden Fall mir! So stand es groß und deutlich direkt unter dem Unterschriftenfeld.
Nun unterzeichnete auch Herr Werner, wedelte das Schriftstück zum Trocknen der Tinten hin und her und verwarte es sorgfältig in einer Klarsichtmappe.
„Herr Krambach, wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen! Sie werden nun von einer unserer Assistentinnen zur physischen Voruntersuchung gebracht.“
Herr Werner reichte mir lächelnd die Hand und drückte dann wieder auf die Fernbedienung.
Eine grün gekleidete Frau führte mich schweigend aus dem Raum, wie vordem durch endlose Gänge, über hell erleuchtete Flure. Immer wieder öffnete sie mit Fingersensoren gesicherte Türen durch Drücken ihres Daumens. Dann fuhren wir mit einem Fahrstuhl, der erst durch Tippen eines langen Codes in Gang gesetzt wurde, ins Untergeschoss.
Dort begrüßten mich zwei Herren, die sich als Ärzte vorstellten. Ich musste mich unter ihren prüfenden Blicken völlig ausziehen und auf eine geheizte Pritsche legen.
„Herr Krambach, wir werden Sie jetzt in einen Tiefschlaf versetzen. Keine Angst. Sie werden nichts spüren. Selbst die Narkoseinjektion ist absolut schmerzlos. Wenn Sie wieder erwachen, beginnt die Studie. Wie es weitergeht, erklären wir Ihnen dann.“
Nun wurde mir doch sehr mulmig zumute. Eine Narkose? Tiefschlaf? Was um Himmels willen hatten die mit mir vor? Nun, ich kann ja jederzeit abbrechen und das Geld auf jeden Fall mit nach Hause nehmen, beruhigte ich mich wieder.
Den Einstich merkte ich wirklich kaum …

„Aufwachen! Herr Krambach! Aufwachen! Öffnen Sie die Augen!“
In meinem Kopf surrte und puckerte es. Ich war wach. Glockenwach! Gerade hatte ich die Narkosespritze bekommen und schon wieder munter? Wurde das Experiment abgebrochen?
„Da sind Sie ja wieder! Kommen Sie erst einmal in Ruhe zu sich. Ich schaue später nach Ihnen und beantworte Ihre Fragen!“
Die grün bekittelte Frau von vorhin verschwand aus meinem Blickfeld.
Direkt vor mir, etwas erhöht flimmerte es auf einem großen LCD: wieder das im Wind wabernde Kornfeld. „Wie das dort wohl im Frühling aussieht?“, fuhr es mir durch den Kopf.
Das Bild wechselte blitzschnell. Kleine grüne Getreidebüschel waren nun zu sehen. Dazwischen weiße Flecken. Tauender Schnee! Es donnerte und schwarze Wolken zogen auf. Dann prasselte ein Hagelschauer nieder.
Mich fröstelte. „Nee, lieber Sommer und Eisdiele. Wie gern wäre ich jetzt dort, um Milchkaffee zu trinken!“, dachte ich.
Sofort wechselte der Film abrupt: Geschirrklappern, Stimmengewirr. Ein dunkelhäutiger bezopfter Mann schwenkte akrobatisch ein riesiges Tablett mit gefüllten Eisbechern zwischen Tischen hindurch. Dann blieb er stehen und stellte mit stummem Nicken ein Glas Milchkaffee vor einen Gast. Der blickte auf …
Das war ja ich! Mein Gott!
Neben mir piepte ein Monitor hektisch. Grüne wellenartige Linien zuckten. Schläuche, Kabel und ein durchsichtiger, rot gefüllter Plastikbeutel mit einer langen Röhre, die zu mir führte, pumpte sich rhythmisch auf, zog sich wieder zusammen, pumpte sich auf, zog sich zusammen …
Was machen die mit mir? War dies das geheimnisvolle Experiment? Meine Gedanken in Filme umzusetzen? Mit mir als virtuellen Protagonisten? Und was war das hier für ein abgedunkelter, merkwürdiger Raum?
Ich war unfähig, mich zu bewegen. Noch nicht einmal meinen Kopf konnte ich drehen. Nur mit den Augen, die sich langsam an das Dunkel gewöhnten, konnte ich die Umgebung abtasten.
Überall flackerten irgendwelche Filme auf unzähligen Bildschirmen. Davor standen auf Rollwagen metallene, ca. halbmeter hohe Quader mit Hauben darauf, aus denen wirre Kabel führten. Neben jedem dieser Kästen blinkte ein Monitor mit ebensolchen Schläuchen. Wie bei mir.

Die Assistentin erschien neben mir aus dem Nichts. Sie drückte irgendwelche Tasten. Das Geräusch verstummte. Dann schaltete sie die Deckenbeleuchtung ein. Die Hauben auf den Metallbehältern wackelten leicht. Viele der LCDs erloschen.
Emsig machte sich die Frau gegenüber an einer der Hauben zu schaffen. Sie zog Drähte und Schläuche heraus und wechselte einen rot gefüllten Beutel gegen einen anderen. Dann entfernte sie vorsichtig die Plastikkappe.
Zum Vorschein kam ein kahl rasierter Schädel mit riesigen, abstehenden Ohren. Der kurze dicke Hals steckte, fest mit der Metallkiste verbunden, in einer gummiartigen Manschette. Nun säuberte sie mit einem Tupfer den Kopfbereich, zog die Kappe wieder über und befestigte sämtliche Zuführungsleitungen aufs Neue.
Entsetzt schaute ich ihrem Tun zu. Als hätte sie meine Blicke gespürt, wandte sie sich um und nickte mir mit beruhigendem Lächeln zu.
„Gleich bin ich bei Ihnen, Herr Krambach. Einen Moment noch!“
Sie drückte einige Tasten, das grüne Flackern am Kontrollmonitor setzte wieder ein. Nun kam sie auf mich zu.
„Wir wollen nicht so aufgeregt sein, lieber Herr Krambach. Schließlich sind wir doch noch gar nicht aufgeklärt worden. Ich werde Ihnen jetzt erst einmal unser Experiment erklären. Das wird uns beruhigen. Wie Sie ja selbst aus den Medien wissen, befindet sich unser Planet durch Klimawandel und daraus folgenden Katastrophen vor dem Kollaps. Wir müssen schnellstmöglich für alle Menschen eine vernünftige Lösung finden, ohne dass jemand auf seinen gewohnten Luxus verzichten braucht. Die Wissenschaftler unseres Institutes entwickeln Konzepte, die virtuelles, komfortables Leben unter Schonung sämtlicher Resourcen ermöglichen.
Sie, Herr Krambach, brauchen Ihren Körper nicht mehr! Kraft Ihrer Gedanken und ihren Vorstellungen können Sie das Leben führen, das Sie sich erträumen. Jeder Ihrer Wünsche wird so, wie Sie ihn denken, erfüllt. Sie treffen auf virtuellen Plattformen andere Menschen, kommunizieren mit ihnen und haben jederzeit die Möglichkeit, Ihre Persönlichkeit und Ihren gesellschaftlichen Status zu ändern. Nach einer Weile werden Sie lernen, gedanklich und gefühlsmäßig ein neues, wunderbar unabhängiges Leben aufzubauen. Weder Kummer noch Not werden maßgeblich sein. Sie brauchen nie wieder essen, werden keine körperlichen Beschwerden haben und sind bis zu Ihrem realen Tod – jedes Gehirn stirbt schließlich einmal – glücklich und zufrieden. Das Institut stellt Ihnen hierfür ein Startgeld zur Verfügung. Virtuell selbstverständlich. Denken Sie sich in einen Shop, kaufen Sie sich zu allererst was Schönes. Und dann richten Sie sich eine Wohnung ein und laden Freunde zur Einweihungsparty. Oder spekulieren Sie an der Börse. Natürlich können Sie ihr Geld auch zinsbringend bei einer Online-Bank anlegen. Und denken Sie daran: In der virtuellen Welt ist alles billiger, als im wahren Leben.
Sie werden sehen, es ist ganz einfach …!“

Nein! Nein und nochmals nein! Ich wollte das Experiment sofort abbrechen!
War ich etwa auch so ein Glatzkopf auf einem Metallkasten?Auf meinem Bildschirm erschien ein metallener Quader. Obendrauf ein Kopf unter einer durchsichtigen Plastikhaube mit Drähten und Schläuchen. Das Bild zoomte näher. Ich sah ein entsetztes Gesicht - mein Gesicht.

„Es tut mir leid, Herr Krambach. Wir können Sie nicht aus dem Versuch herausnehmen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Während Ihres künstlichen Komas sind einige Aggregate zur Konservierung der eingelagerten Körper ausgefallen. Vielleicht finden wir im Laufe der Zeit einen neuen, geeigneten Probanden, der für immer im virtuellen Leben bleiben möchte. Dann erhalten Sie selbstverständlich seinen Leib. Ich werde mit Professor Werner sprechen, Sie kennen ihn ja bereits.
Aber nun muss ich weiter. Im Nebenraum warten noch einige Kinder, die von ihren Eltern für das Experiment abgegeben wurden. Schließlich gibt es nur hier eine kindgerechte, freundliche Welt, in der sich die Kleinen richtig wohlfühlen können.
Auf Wiedersehen, Herr Krambach. Ich schaue morgen wieder nach Ihnen!“

( © Elke Kemna, 16. 3. 2007 )

... entstanden nach Lesen eines Spiegel-Artikels über "Seccond Life"

3 Kommentare:

solo hat gesagt…

Zack! bist du bei bookrix weg! Auweia. Weswegen denn?
Naja auf jedenfalls Grüsse von mir aus meinen blogs ich hab dich mal verlinkt, der einfachheit halber.
das manuskript würde ich gern lesen.

meine kommentare zu dieser geschichte kennste ja schon ;)

lg solo

Elke K. hat gesagt…

Hi, solo,
gerade erst Deinen Kommentar entdeckt 'freu'!
Ich melde mich demnächst.
Lieben Gruß
Elke

Fotos hat gesagt…

Liebe Elke
Diese Geschichte muss ich erst mal verdauen. So realistisch sie geschrieben ist sie fast Angstauslösend.

Ein grosses Kompliment an dich

Ich werde mir die anderen Geschichten auch noch vornehmen.

Ganz liebe Grüsse
Verena